Antisemitismus hat es in unterschiedlichem Ausmaß in fast allen Ländern gegeben. Die allgemeine Grundlage dazu findet man etwa bei dem Ethnologen Claude Lévi-Strauß, der den Ethnozentrismus als naturwüchsig entstandene menschliche Grundeigenschaft sieht, er sei "eine allgemeine, in allen Gesellschaften vorhandene Einstellung, besonders aber in solchen, die nur wenig Kontakt mit der übrigen Welt haben, kurz bei den so genannten Primitiven. Dieser Ausdruck meint ohne jede abwertenden Nebenbedeutung die Gesellschaften ohne Technik und ohne Schrift. Der Ethnozentrismus ist also ursprünglich die Haltung des Wilden: das Wort, mit dem die Cheyennes sich selber bezeichnen, bedeutet 'menschliche Wesen', die Guayaki-Indianer nennen sich selbst Ache, das heißt Menschen. Kurz, jeder hält sich für einzigartig und hervorragend und infolgedessen die anderen für irgendwie minderwertig. So tief ist diese Haltung im Unbewussten des Menschen verankert, dass man sie nur schwer unterdrücken kann, obgleich sie selbstverständlich mit einem objektiven Urteil über die Verschiedenheit menschlicher Kulturen unvereinbar ist. Ethnozentriker ist somit, wer als Angehöriger einer bestimmten ethnischen Gruppe die für diese eigentümliche Lebensweise für die bestmögliche und ihre Mitglieder als die besten aller Menschen betrachtet." (Poliakow, Delacampagne, Girard "Über den Rassismus", Ullstein 1985, Seite 37f).
Daraus ergibt sich die subjektiv logische Weltsicht, dass Angehörige von Fremdgruppen gemäß den Normen der Eigengruppe beurteilt und abgewertet werden. Dies führt einerseits zur Selbstbestätigung der eigenen Gruppe ("Wir sind nicht so, wie jene dort"), sichert damit die Gruppenidentität und ergibt andererseits ein Feindbild, das als Urheber eigenen Ungemachs gelten kann. Da sich die andere Gruppe ihrerseits genauso verhält, ist die Möglichkeit für das Entstehen tatsächlicher Konflikte gegeben.
Warum gerade im deutschsprachigen Bereich der Ethnozentrismus der primitiven Völkerschaften im 20. Jahrhundert zum industriell organisierten Massenmord an den Juden führte, hatte seine Ursache in der speziellen Beschaffenheit der gesellschaftlichen Entwicklung.
Die jüdische Religion war die erste monotheistische Religion. Religiöse Vorstellungen sind immer eine verzerrte Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse, daher belegt dieser frühe Monotheismus eine frühzeitig zusammengefügte Gesellschaftsstruktur unter stammesübergreifenden Einzelherrschern. Das jüdische Volk, das sich selber als das "auserwählte Volk" bezeichnete, besaß also zu einem Zeitpunkt bereits nationale Identität, wo andere menschliche Gemeinschaften noch im primitiven Stammesgefüge zusammenlebten. Die Zerstörung des jüdischen Staates durch die Römer vernichtete die jüdische nationale Identität nicht. Der mosaische Glaube hielt diese auch in der Diaspora aufrecht.
Die Juden in Deutschland und Österreich waren eine kleine Bevölkerungsgruppe, aber sie hatten gegenüber denjenigen Deutschen, die sich als zusammengehörige Nation sahen, aber im 19. Jahrhundert noch immer um einen deutschen Nationalstaat kämpfen mussten, einen immensen Vorteil: Sie bildeten sogar als verstreut lebende Minderheit eine Nation. Zwar fehlte eine wesentliche nationale Komponente: Ein gemeinsames Staatsterritorium, aber man sah sich als Gemeinschaft mit eigener geschichtlichen und kulturellen (religiösen) Tradition, war wirtschaftlich innerhalb der Gruppe verbunden und besaß einen ausgeprägten Willen zur Zusammengehörigkeit.
Die Frage, die sich zwangsläufig nun dazu stellt: Warum konnte diese Ideologie so eine weitreichende Zustimmung finden? Versuchen wir dazu einen Blick in die Vergangenheit.
Die Juden hatten in der Diaspora die Kulturen ihrer Gastvölker eher nicht übernommen, da dies meistens nur degenerativ geschehen hätte können, sie blieben im Exil zusammengeschlossen, erhielten (als Ausdruck ihrer Kultur und Identität) ihre Religion und assimilierten sich auch über Jahrhunderte nicht oder nicht entscheidend gegenüber ihrer Umgebung.
Eine schönere Basis für die Ausbildung von Vorurteilen konnten sie nicht liefern. Sie blieben fremd, konnten auf eine jahrhundertealte Schriftkultur zurückblicken und waren daher intellektuell besser vorgebildet als die meisten Zeitgenossen: Man billigte ihnen darum keine gesellschaftlichen Positionen zu, schloss sie von den meisten Berufen aus (Konkurrenzneid gegen den möglicherweise Tüchtigeren) und konnte bei jeder Gelegenheit alles Ungemach den bösen Juden zuschieben, die noch dazu "unseren Herrn Jesus" ans Kreuz genagelt hätten.
Um es kurz zu machen: Die Juden mussten sich in vielen Ländern (u.a. im Römischen Reich deutscher Nation) auf die Erwerbszweige des Handels und der Bankgeschäfte beschränken (was zudem durch ihre weit verzweigten Verbindungen auf der Hand lag), sie durften weder Landwirtschaft noch ein Handwerk (Zünfte!) betreiben: Geld- und Handelsgeschäfte (speziell die den Christen seinerzeit verbotenen Zinsgeschäfte) blieben den Juden als Metier. Als der Feudalismus unterging und der Kapitalismus sich zu entwickeln begann, hatten Juden jahrhundertelange Erfahrungen in Geld- und Handelsgeschäften.
Sie hätten eine Gemeinschaft von Idioten sein müssen, wenn der aufsteigende Kapitalismus nicht viele von ihnen an hervorragende Stellen gebracht hätte. Da der Kapitalismus damals, ungezähmt und maßlos, primitiver und dadurch noch brutaler als heute, nicht gerade nur Freude über die Menschheit brachte, gerieten Juden zunehmend in die Mühle der gesellschaftlichen Widersprüche: Es erschien vielen Menschen nun nicht als die Folge kapitalistischen Wirtschaftens, wenn sich Not und Elend unter breiten Schichten der Bevölkerung ausbreiteten, es erschien ihnen als das Übelwollen von Personen und Personengruppen: Juden in Fabriks-, Handels- und Geldgeschäften schienen die Ursache zu sein; gegen sie die Proteste zu richten, die den Kapitalismus anklagen hätten müssen, war das Bestreben derjenigen Kreise, die die Emanzipation der Arbeiterbewegung ebenso sehr fürchteten: Die traditionellen Mittelschichten, die sich himmelhoch über dem Proletariat wähnten, aber andererseits durch die Konkurrenz des "großen Geldes" unter Druck gerieten.
Auch die unmittelbare (klein)bürgerliche Konkurrenzsituation wurde verschärft: Von jüdischen Kleinhändlern, jüdischen Dienstleistern bis zu jüdischen Akademikern vermehrte sich zum Beispiel in Wien durch jüdische Zuwanderer das Konkurrenzgeschehen. Zudem hatten diese jüdischen Zuwanderer aus dem Osten (Galizien) oft wenig Neigung zur Assimilierung und waren daher als "fremd" besonders leicht auszugrenzen.
Ferner waren auch in der Arbeiterbewegung zunehmend Persönlichkeiten jüdischer Abstammung aufgetreten (Marx, Lassalle, Adler, Kautsky, Bernstein, Luxemburg u.a.m.), man war also von Marx, Rothschild und dem Flickschuster Kohn (von diesem besonders!) umzingelt, also: Nieder mit den verdammten Juden, den Ausbeutern, Volksverhetzern, Geschäftskonkurrenten, Christusmördern, Kinderschändern und schmutzigen Fremden. Juden waren subjektiv und auch objektiv Anlässe für Ängste, auch für berechtigte Befürchtungen, gegen neue Kontrahenten den Kürzeren zu ziehen. Dass in solchen Situationen Juden nicht mehr als Personen, sondern als einheitliche feindliche Macht (Verschwörer!) gesehen werden können, ist psychologisch verständlich.
In Situationen, in denen sich Menschen sehr bedrängt und verunsichert fühlen, streben sie zwangsläufig nach Existenzsicherung und nach Befreiung von Abhängigkeiten, was aber häufig nicht auf der Ebene politischer, ökonomischer und sozialer Emanzipationsbestrebungen, sondern auf der Basis von mystisch-mythischen Konstruktionen erfolgt. Solange so etwas in individuellen neurotischen Erscheinungen abläuft (UFO-Kontaktler und andere Esoteriker und Spiritisten z.B.) ist dies kein wesentliches gesellschaftliches Problem. Aber auch Schnapsideen können zur materiellen Gewalt werden, wenn sie, durch spezielle Umstände bedingt, größere Massen ergreifen, zu Massenneurosen werden.
Zwei Beispiele zur Veranschaulichung: Erste Formen der Arbeiterbewegung hatten sich als "Maschinenstürmerei" entwickelt: Die neuen Maschinen schienen die Ursache von Arbeitsplatzverlust, Not und Elend zu sein: Sie waren jedoch der Ausdruck, das Ergebnis und nicht die Ursache der industriellen Revolution, die Zerstörung der Maschinen veränderte die gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt nicht.
Die Positionen von Juden an Schaltstellen und als Kontrahenten kann man in einem ähnlichen Zusammenhang sehen. Ob nun ein Kapitalist "Jude" oder "Arier" ist, verändert die Gesellschaft nicht. Die deutsche Schwerindustrie von Krupp und Konsorten galt in der Nazizeit als "schaffendes Kapital" im Gegensatz zum jüdischen "raffenden Kapital". Wäre heutzutage der ehemalige BILLA-Besitzer ein Jude, sofort hätten uns die einschlägigen Kreise wissen lassen, dass er sich eben gemäß seiner Rasseneigenschaften verhielte. Als ehemaliger Wehrmachtsangehöriger hat der alte Wlaschek aber einen "Ariernachweis" und daher ist sein Erfolg wohl doch ein arisch-schaffender.
Von den Folgen her vergleichbar ist die Feindbildfunktion der Juden auch mit dem der Hexen: Es erscheint uns heute einfach als Wahnsinn und Irrwitz, dass in der Zeit vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhundert massenhaft Frauen als "Hexen" bei lebendigem Leib verbrannt wurden, und doch hatte man damals auch sozusagen einen Grund dafür. Aus der vorchristlichen Zeit, wahrscheinlich noch aus dem Matriarchat hatten Frauen "geheimes" Wissen von Generation zu Generation weitervermittelt: Über Fruchtbarkeit, Geburt, Krankheit und Tod. Diese Naturkenntnisse konnten in einer christlich-abergläubischen Zeit als "teuflisch" und "dämonisch" ausgelegt werden, mit allen grauenhaften Konsequenzen: Die "Hexen" waren eine "Außenseitergruppe", ideal geeignet, als schuldig am Unglück der Welt betrachtet zu werden: Man verbrennt die Hexen und vergast die Juden und erlöst so die Welt vermeintlich von ihren Übeln.
Lange klappte der Judenersatz mittels Ausländer. Waren es zur NS-Zeit die angeblich maßlos reichen Juden, die das Hauptfeindbild abgaben, folgten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts türkische oder serbische Hilfsarbeiter. Es spielt also die soziale Position keine entscheidende Rolle, wesentlich ist das Element der Abgrenzungsmöglichkeit. Haider brauchte "die Ausländer" überhaupt nicht mehr propagandistisch eigens in den Vordergrund zu stellen. Türkinnen mit Kopftuch etwa erledigten für ihn die Fortführung der Propaganda gleichsam im automatisierten Selbstlauf.
Die Reflexionen des "anständigen Österreichers" laufen auch heute nach dem alten Schema: Ich bin brav, fleißig und ehrlich. Irgendwelche abgrenzbar fremd ausschauenden Leute ("denen man ihre Abstammung ansieht", wie das der ehemalige oö. LH Ratzenböck so treffsicher zusammenfasste) haben diese Eigenschaften (vielleicht, möglicherweise, unter Umständen oder ganz sicher) nicht. Also liegt es auf der Hand: Wenn ich mit Bravsein, Fleiß und Ehrlichkeit nicht in lichte Höhen aufsteige (oder sogar in dunkle Tiefen absacke), dann kann die Ursache niemals in Komponenten begründet sein, die ich (mit)zuverantworten hätte. Weil ich dann ja selber schwach, schlecht, fehlerhaft oder minderwertig wäre. Es kann nur an Einflüssen von außerhalb, also fremden Einflüssen, liegen.
Es ist dann am allereinfachsten, wenn das Abendland, das deutsche oder das österreichische Volk, die Heimat usw. von gefährlichen orientalischen, balkanesischen, undeutschen, unösterreichischen, unheimlichen Fremden bedroht wird. Diese Bedroher und alle ihre Helfer und Helfershelfer (hier brachte man dann auch den Zweitfeind, die terroristischen, rabiaten, grünen, roten, radikalen, linken Schickeriabolschewisten aus der Kronen Zeitung unter) sind meine Feinde. Diese Feinde müssen aus der Gemeinschaft ausgegrenzt, ausgeschieden, eliminiert werden. Dann hat mein Weltbild mit mir (und meinesgleichen) im Zentrum wieder die Dominanz. Insgesamt handelt es sich also um den Ethnozentrismus der menschlichen Frühgeschichte.
Aber selbst wenn sich beispielsweise alle Gastarbeiter ersetzen ließen, selbst wenn man die Einreise aller Ausländer verhindern könnte: Deswegen wäre ja keineswegs die Verwirklichung der Wunschträume aller einzelnen "Braven, Anständigen, Fleißigen" sichergestellt. Es würde bloß die Ausrede für das Gefühl der Bedrängtheit und Unzulänglichkeit auf ein anderes Feindbild geschoben werden müssen. An all dem Unglück wären dann nicht mehr türkische Kopftücher oder serbische Schnurrbärte schuld, sondern wahrscheinlich die Weltherrschaftspläne der Freimaurer oder die Todesstrahlen der UFOs.
Und wieder zum altbewährten Antisemitismus: Die Globalisierung wird heute von den einschlägigen Kreisen auch als Synonym für "jüdische Weltverschwörung" verwendet. Im Zeitalter der Globalisierung mit den Möglichkeiten des ungehemmten Profitstrebens (nur das Damoklesschwert des Kommunismus machte nach dem 2. Weltkrieg den Kapitalismus für einige Jahrzehnte zur "sozialen Marktwirtschaft"!) sehen sich Menschen immer mehr an eine unheimliche Macht ausgeliefert. Die globalen gesellschaftspolitischen Zusammenhänge werden politisch nicht debattiert, weil - wie Marx schon sagte - die herrschenden Ideen immer die Ideen der Herrschenden sind, über diese debattiert man nicht, daran glaubt man: dann ist Globalsisierung Schicksal, nicht Menschenwerk. Dadurch nimmt die Hinwendung an magische und mythische Vorstellungen zu. Wieder müssen nicht die ökonomischen gesellschaftlichen Zusammenhänge, sondern äußere Erscheinungen als Erklärungsmuster herhalten - jede Person jüdischer Abkunft, die im Zusammenhang mit der Ausbreitung des neoliberalen Systems in Erscheinung tritt, scheint zu beweisen: Neoliberalismus und Globalisierung sind eine Verschwörung der "Weisen von Zion". Dabei spielt es selbstverständlich keine Rolle, dass sowohl der Theoretiker des "Monetarismus" (Milton Friedman) als auch sein schärfster Kritiker (Joseph Stiglitz) Juden sind.
Die religiösen Vorstellungen der Menschheit liefern für diese gesellschaftspolitischen
Erklärungsversuche das Grundmuster:
Das Existierende wird nicht als eine
Abfolge sich gegenseitig bedingender und beeinflussender Kräftewirkungen und
Geschehnisse gesehen, die keinem vorgegebenem Zweck oder Ziel folgen, sondern
als göttlicher Plan - was passiert, passiert, weil es eine allmächtige Wesensheit
so haben will, nicht weil es sich aus einer unendlichen Abfolge von Vorgängen
so ergeben hat.
Eine "jüdische Weltverschwörung" hätte nach den Ansichten und Aussagen der Antisemiten in den vergangenen Jahrhunderten folgendes organisieren müssen: die Ausbeutung der Leibeigenen im Feudalismus, die Aufklärung, den Sturz des Feudalismus, die Einführung des Kapitalismus, den Parlamentarismus, Gewerkschaften und Arbeiterbewegung, Bolschewismus und Oktoberrevolution, Plutokratie, zwei Weltkriege, moderne Kunst und Literatur, den Zusammenbruch des Bolschewismus, den Abbau der nationalen Grenzen, die Europäische Union, den Neoliberalismus, die Globalisierung.
Was die Verkünder dieser Weltsicht auch beweisen zu können glauben,
denn an allen Vorgängen waren Juden beteiligt. Was jedoch am internationalen
Charakter der jüdischen Nation liegt, wenn z.B. sowohl ein Rothschild als
ein Marx jüdischer Abkunft waren - und nicht ein heimtückischer Geheimplan,
ein Geheimplan, der so komplex und umfassend hätte sein müssen, dass er quasi
schon göttlichen Charakter hätte haben müssen.
In der Praxis ist das jüdische
Gemeinwesen in Israel meist nicht einmal in Not- und Konfliktlagen zum gemeinsamen Handeln
mit einer vernünftigen Perspektive imstande. Eine stabile Lage in Israel, einen Nahostfrieden
zu erreichen, schafften "die Juden" bisher nicht, alles andere auf der Erde schaffen
sie mit Hilfe einer seit Jahrhunderten laufenden Weltverschwörung? Ist
das nicht ein bisschen zu viel der Ehre?
(Siehe dazu auch: Der Hang zum Rechtsextremismus)