Mühlviertler Hasenjagd

Eine 'POLITISCHE WANDERUNG' mit Prof. Kammerstätter

Vom Oberkommando der Wehrmacht erging am 2.3.1944 der Befehl, die aus deutscher Gefangenschaft geflohenen Offiziere (ausgenommen Briten und Amerikaner) nach ihrer Wiederergreifung ins KZ Mauthausen zu überstellen und dort im Block 20 zu internieren. Vertraulichkeit fordert der Befehl, der im Museum des ehemaligen KZs nachzulesen ist: "Aktion K" heißt es in ihm. K wie Kugel, die Häftlinge sollten erschossen werden.

Die Insassen des Block 20 wurden zu keinerlei Arbeitsdiensten herangezogen. Täglicher Appell, "Leibesübungen", Totschlag nach Willkür, alle paar Tage einige Löffel Suppe. 700 Häftlinge auf engstem Raum. Keine Betten, keine Strohsäcke. Im Winter ließ die SS den Boden unter Wasser setzen. Auf den Befehl "Niederlegen!" mussten die Internierten zur Nachtruhe ins Wasser.

Wir stehen an Ort und Stelle, am Beginn unserer politischen Wanderung zur "Mühlviertler Hasenjagd". Peter Kammerstätter ist seit Jahrzehnten auf der Suche nach zeitgeschichtlichem Material und nach Gesprächen mit Zeitzeugen. Dort, wo die sowjetischen Offiziere in einer Baracke gehalten wurden, skizziert mit seinem Skistock die Topographie des Blocks 20. Zwei Wachtürme, eine 2,20 Meter hohe Mauer und ein mit Starkstrom geladener Draht. Das waren die zu überwindenden Hindernisse. Mit Hilfe anderer Häftlinge wird ein Ausbruch vorbereitet. Er soll am 29.1.1945 stattfinden. Unmittelbar vorher werden zwanzig noch gut genährte Offiziere ausgemustert und erschossen, darunter der gesamte Führungsstab für den Ausbruch. Die Flucht wird auf den 2. Februar verschoben. Um 0Uhr50 überwältigen die Häftlinge die Wache, indem sie ihr Feuerlöscherschaum in die Augen spritzen. 419 der rund 700 Häftlinge schaffen vorerst die Flucht. Am 3. Februar sind laut einem SS-Fernschreiben 300 wiederergriffen, davon 57 lebend. Soweit heute belegt ist, haben elf Häftlinge die Flucht geschafft, sieben gelten als vermisst.

Gut zwanzig "politische Wanderer" verlassen am 30.Jänner 1993 zu Mittag die Anlage des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen gegen Norden, stapfen durch 20cm trockenen Neuschnee. Neben den Stiefeleindrücken in der glatten Schneedecke gibt es auch eine Hasenfährte, eine Spurenfolge von zwei Strichen, dahinter zwei versetzte Kreisrunde Löcher. Meister Lampe hatte es eilig.

Eile, Hast, Angst. In der Nacht vom 1. zum 2. Februar 1945 waren sowjetische Offiziere die Gejagten. Abgemagert, kraftlos, unzureichend bekleidet, kein Schuhwerk, 25 bis 30 cm Neuschnee, minus acht Grad, die alarmierte SS im Nacken. Der Weg bis zum nächsten schutzbietenden Wald ist weit, unendlich weit scheint er uns auch 48 Jahre nach dem Ausbruch, der eine grauenvolle Hetzjagd zur Folge hatte: Sie ging als "Mühlviertler Hasenjagd" in die Geschichte ein. Erschossen wurde von der SS und ihren Helfershelfern jeder Flüchtling, der gesichtet, ausgeforscht, gefasst wurde. Sofort.

Im KZ-Museum zeigt ein Foto eine gekrümmte Gestalt im gestreiften Häftlingsdrillich im Schnee. "Ohg'schoss'n hom's es wia de Hoas'n" erzählt der Bauer Schwarz, Zeitzeuge aus Marbach, den Wanderern, 14 Tage blieben die Leichen zur Abschreckung im Schnee liegen.

"Die Leute wollen eigentlich nicht mehr darüber reden, es lieber einschlafen lassen", berichtet Prof. Kammerstätter von den Erfahrungen seiner geschichtlichen Aufarbeitung. Nach dem Krieg wurde geschwiegen, Erinnerung war unliebsam. Die "oral history", wie sie Kammerstätter aufzeichnet, berichtet immer wieder von schrecklichen Bildern Toter, die die Leute immer noch im Kopf haben, von plötzlicher Konfrontation mit mageren Gestalten, die in Ställen, Scheunen, Wohnräumen auftauchten, Nahrung entgegennahmen, weiterflüchteten oder sich versteckten, um den streifenden SS- und Volkssturmmännern doch noch zum Opfer zu fallen. Die Häftlinge selbst, über die die Bevölkerung zu hören bekam, es handle sich um "ganz schlimme Verbrecher", benahmen sich gegenüber den Mühlviertlern höchst anständig, worauf auch die Mauthausner Gendarmeriechronik dezitiert hinweist.

Kammerstätter genießt in seiner Vermittlung von Zeitgeschichte den Ruf des Kämpfers, doch den Teilnehmern der Wanderung bleibt das Leid der Verfolgten weder spürbar noch annähernd nachvollziehbar. Der Kopf kann die nachtschwarzen Kapitel der Zeitgeschichte aufnehmen, die eigenen Beine können in den eiligen Stunden der Wanderung durch den Schnee bis Lungitz und Ried in der Riedmark nur eine ferne schwache Ahnung vermittelt bekommen von dem, was knapp über 400 sowjetische Häftlinge vor 48 Jahren im unteren Mühlviertel erleiden mussten.

(Peter Kammerstätter gestaltete diese und andere politische Wanderungen durch viele Jahre - der obige Bericht bezieht sich auf die letzte Wanderung zum Thema "Mühlviertler Hasenjagd" im Jänner 1993 - Prof. Kammerstätter ist am 3.10.1993 im 82. Lebensjahr verstorben)

Prof. Peter Kammerstätter