Rudolf Hirsch

Der Fünfachtel-Jude

Parteitage der NSDAP wurden jedes Jahr in Nürnberg abgehalten. Es waren keine Parteitage, wie wir sie heute verstehen. Es waren Paraden, Reden, Tanzvorführungen von «Glaube und Schönheit», sie trugen ihre besonderen Namen. Der im September 1934 abgehaltene Parteitag wurde Triumph des Willens genannt. Es wurde ein Sieg gefeiert. Der Sieg über die alten Mitkämpfer der NSDAP, der Sieg über den ältesten Freund Adolf Hitlers, den Stabschef der SA, Röhm. Die Freude über die Ermordung Röhms und vieler alter Parteifreunde des Führers. Der Sieg der SS Himmlers über die alte Schlägertruppe der so genannten Kampfzeit, die SA.

Dem Parteitag der NSDAP 1935 wurde der Name Parteitag der Freiheit gegeben. Hier sollte das antisemitische Programm der Partei einen juristischen Rahmen bekommen, die Juden sollten gesetzlich zu einer minderen Menschengruppe gestempelt werden.

Natürlich musste der Text vorher entworfen und genehmigt werden. Ein Text mit klaren juristischen Paragraphen. Es sollte endlich festgelegt werden, wer eigentlich ein Jude war - es galt hier nicht das Religionsprinzip, sondern das Prinzip der jüdischen Abstammung -, es musste das leidige Mischlingsproblem darin enthalten sein.

Dr. Bernhard Lösener, der Judenreferent im ehemaligen Reichs- und Preußischen Ministerium des Innern, berichtete nach dem Sturz des Naziregimes, dass er und sein Vorgesetzter, der Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart, von Hitler eiligst nach Nürnberg gerufen wurden, um in zwei Tagen den Text der Nürnberger Gesetze zu verfassen.

Es ist heute erwiesen, dass diese Darstellung nicht stimmt oder sehr unvollständig ist. In den Panzerschränken des Ministeriums des Innern lagen schon Gesetzentwürfe für ein Reichsbürgergesetz und für das Ehe- und Liebesverbot zwischen Juden und so genannten Ariern. Schubladengesetze. Dass zwei Tage vor der Nürnberger Reichstagssitzung aus diesen Entwürfen die endgültigen Gesetze zusammengestellt wurden, ist möglich.

Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, kann aber nicht bewiesen werden, dass auch ein Dr. Hans Globke, Oberregierungsrat im selben Ministerium, an diesen Ungesetzen mitgewirkt hat. Er war es, der vor den Nürnberger Gesetzen die Standesbeamten im ganzen Reich angewiesen hatte - ohne gesetzliche Grundlagen -, Ehen von Juden und «Ariern» nicht mehr zu schließen. Derselbe Globke war es auch, der mit seinem Chef Stuckart gemeinsam die Kommentare zur deutschen Rassengesetzgebung in zwei Bänden verfasst hatte. Es ist wahrscheinlich, dass Lösener seinen Kollegen Globke schonen wollte, denn Globke ist bis zur Kapitulation des Nazireichs im Innenministerium geblieben. Er, Dr. Bernhard Lösener, hatte, nach seiner Darstellung, Charakter bewiesen. Er ist tatsächlich 1941 aus dem Ministerium ausgeschieden. Darüber gibt es eine eidesstattliche Erklärung von ihm, in der es heißt: «... ich ließ mich daher am 21. Dezember 1941 bei Stuckart dringend melden und trug ihm folgendes vor: ich sagte, mein Mitarbeiter, Dr. Feldscher, habe von einem völlig vertrauenswürdigen Freund als Augenzeuge eine Schilderung bekommen, in welcher Weise letzthin abtransportierte Juden in Riga abgeschlachtet worden seien. Dem Inhalt nach sagte ich folgendes: Die Juden des betreffenden Lagers mussten lange Gräben als Massengräber ausheben, sich dann völlig entkleiden, ihre abgelegten Sachen in bestimmte Haufen sortieren und sich dann nackend auf den Boden des Massengrabes legen. Dann wurden sie von SS-Leuten mit Maschinenpistolen umgebracht. Die nächste Gruppe der zum Tode Verdammten musste sich dann auf die bereits Hingerichteten legen und wurde in derselben Weise erschossen. Dies Verfahren wurde fortgesetzt, bis das Grab gefüllt war. Es wurde dann mit Erde zugeworfen und eine Dampfwalze darüber geleitet, um es einzuebnen. In dieser Weise wurden sämtliche Massengräber gefüllt. Ich sagte Stuckart, dass diese Greuel mich nicht nur als Menschen berührten, wie es bei sonstigen Greueln der Fall war, sondern dass ich diesmal auch als Referent des Innenministeriums betroffen wurde, da es sich diesmal um Juden deutscher Staatsangehörigkeit handelte. Meinen Verbleib in meiner bisherigen Stellung und im Ministerium könnte ich fortan nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, auch auf die Gefahr hin, dass sich die bisherige Handhabung der Mischlings- und Mischehefragen nicht mehr halten lasse. Stuckart entgegnete hierauf wörtlich: "Herr Lösener, wissen Sie nicht, dass das alles auf höchsten Befehl geschieht?" Ich entgegnete: " Ich habe in mir innen einen Richter, der mir sagt, was ich tun muss."»

Es ist bekannt, dass Lösener zunächst ohne weitere Folgen aus dem Innenministerium entlassen wurde. Es ist auch bekannt, dass er 1944 von den Nazis in ein KZ gesperrt wurde, dort konnte er befreit werden.

Globke aber blieb bis zum bitteren Ende und hatte danach sofort Kontakt zu dem prominenten Politiker Konrad Adenauer, der ihn zu seinem Staatssekretär machte. Ihn und nicht Lösener.

Stuckart, der Amtsvorgesetzte von Lösener und Globke, wurde im so genannten Wilhelmstraßenprozess wegen seiner aktiven Beteiligung an der Judenverfolgung von den Amerikanern im April 1949 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, aber sofort aus der Haft entlassen, die erkannte Strafe sei durch die Untersuchungshaft verbüsst.

In den Nürnberger Gesetzen vom 15.September 1935 wurde neben einer deutschen Staatsangehörigkeit eine Reichsbürgerschaft erfunden. Reichsbürger, so hieß es in dem Gesetz, konnten nur deutsche Staatsbürger sein, die deutschen oder artverwandten Blutes waren. Der Reichsbürger war alleiniger Träger der vollen politischen Rechte nach Maßgaben der Gesetze.

Es wurde postuliert: "Ein Jude kann nicht Reichsbürger sein. Ihm steht ein Stimmrecht in politischen Angelegenheiten nicht zu; er kann kein öffentliches Amt bekleiden."

Wer war denn Jude, wieviel nichtjüdische Elternteile oder Großelternteile brauchte ein Mensch, um Reichsbürger zu werden?

Es wurden nun die Begriffe «deutschblütig» oder «dem deutschen Blut artverwandte» Menschen erfunden, denn bisher gab es nur Arier und Nichtarier. Aber diese Bezeichnungen hatten viele juristische Haken, die musste man vermeiden. Mit den neuen Begriffen wurde das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 von Stuckart, Lösener und wahrscheinlich auch von Globke verfasst und von dem gleichgeschalteten Reichstag einstimmig angenommen. Es hieß im § 1: «Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Ausland geschlossen sind ...» Im § 2: «Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten.» Und im § 3: «Juden dürfen weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt nicht beschäftigen». Dass dann noch im § 4 das Hissen der Reichs- und Nationalfahne und der Reichsfarben für Juden verboten war, konnte damals verschmerzt werden. Aber der § 5 war bitter ernst: «Wer eine Ehe trotzdem abschließt, wird mit Zuchthaus bestraft.» Und im 2. Absatz hieß es: «Der Mann, der dem Verbot des § 2 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis oder mit Zuchthaus bestraft».

Man hatte also herausgefunden, die Begriffe Arier und Nichtarier waren nicht brauchbar. Sie konnten in einem Reichsgesetz nicht verwandt werden. Der Begriff arisch oder indogermanisch stammt aus der Sprachwissenschaft. Zu den arischen oder indogermanischen Sprachen gehören die am meisten in Europa gebräuchlichen Sprachen und Dialekte. Auch die meisten der indischen, iranischen und in Afghanistan gebräuchlichen Sprachen und Dialekte werden zum Indogermanischen gerechnet. Ebenfalls werden zu dieser Gruppe alle romanischen und slawischen Sprachen gezählt. Im Ostseeraum gehören Litauisch und Lettisch dazu.

Hingegen Estnisch und Finnisch werden genauso wie Ungarisch zur finnisch-ugrischen Sprachgruppe gerechnet. Die Bürger der zeitweilig mit den Nazis eng verbündeten Länder Ungarn und Finnland wären diskriminiert worden als Nichtarier. Wäre diese Rassengesetzgebung in ganz Europa geltendes Gesetz geworden, dann wäre auch die Ehe einer Estin mit einem Litauer Rassenschande gewesen. Ja, eine finnisch sprechende Finnin hätte niemals einem schwedisch sprechenden Finnen näherkommen dürfen. Dagegen: Ein sehr dunkelhäutiger Bengale ist ein Arier. Und wenn wir ganz konsequent sein wollen im Durchdenken eines Wahnsinns, dann sind die deutschsprechenden Juden ebenso Arier wie die Juden Osteuropas, die eine arische oder indogermanische Sprache sprechen, das Jiddisch. Das Hebräisch, das nach der Wissenschaft der Sprachforscher zur hamitosemitischen Sprachgruppe gehört, ist nur Gebetssprache und durchaus nicht allen Juden verständlich.

Deswegen hatten die so gelehrigen und beflissenen Juristen, die die Nürnberger Gesetze entworfen hatten, dieses verfängliche Wort Arier aus ihrem Sprachschatz gestrichen. Sie folgten dabei einem alten Naziideologen, einem so genannten Rassenforscher Günther, der nun viele europäische Rassen konstatierte, die nordische, die fälische, die dinarische, die westische, die ostische, die ostbaltische, die vorderasiatische, die innerasiatische, die orientalische, äthiopische und die jüdische Rasse. Stuckart und Globke sagten: Es gebe ein deutsches Volk, aber keine deutsche Rasse. Wie es keine deutsche Rasse gebe, so gebe es auch strenggenommen keine jüdische. Die Juden seien ein Rassengemisch. Sie würden "in ihrer heutigen Zusammensetzung irrtümlicherweise als jüdische Rasse bezeichnet". Im Gegensatz zum jüdischen Volk seien im deutschen Volk in der Hauptsache die artverwandten europäischen Rassen in einem bestimmten Mischungsverhältnis vertreten. Mit diesen nebulösen Begriffen wurde dann, auch nach Günther und nach den Führererklärungen, postuliert, welche Charaktereigenschaften die deutsche Mischung und welche Charaktereigenschaften die jüdische Mischung habe. Weshalb die deutsche Mischung sich nicht mit der jüdischen Mischung mischen dürfe. Es war zwar Unsinn, aber es hatte Methode. Die Zitate aus Hitlers MEIN KAMPF wurden als wissenschaftliche Postulate verwandt. Globke und Stuckart kamen zu dem Ergebnis: Menschen deutschen und artverwandten Blutes sind alle Völker, die in Europa wohnen, mit Ausnahme der Juden und Zigeuner. Dass sie mit den «Zigeunern» besonderes Pech hatten, die Rassenkundler, ist offensichtlich, denn diese sind ursprünglich Inder, gehören also unbedingt der arischen Sprachgruppe an. Außerdem sind sie meist katholisch, sie haben Indien verlassen, weil sie als niedrigste Kaste dort diffamiert wurden. Aber all das, was die Wissenschaft schon längst festgestellt hatte, interessierte diese gefälligen Juristen nicht. Dass die Blutgruppenzusammensetzung jüdischer Deutscher die gleiche ist wie die der christlichen Deutschen, interessierte diese Herren nicht. Sie hatten es mit dem Blut, und durch Blut wateten sie.

Sie hatten es wahrlich schwer, die beflissenen Juristen, Übersinnliches, das jenseits der erkennbaren Welt existieren soll, in ein logisches, handhabbares System zu bringen. Es gab da das Mischlingsproblem. Nach ihren Statistiken waren mindestens 2,3 Prozent der gesamten Bevölkerung Mischlinge. Sollten diesen Menschen alle staatsbürgerlichen Rechte aberkannt werden, hätte man sie nicht zum Wehrdienst einziehen dürfen. Die Wehrmacht war jedoch auf jeden nur halbwegs gesunden Rekruten scharf. Was man mit den Nürnberger Gesetzen auf jeden Fall vermeiden wollte, das Entstehen von «Mischlingen», musste man nun auch noch anerkennen; dass Mischlinge, also Halbjuden, Reichsbürger werden konnten, zur Wehrmacht tauglich. Es gab das Problem der Viertel- und Dreiviertel-Mischlinge. Ja, die beflissenen Bürokraten erfanden auch noch den Dreiachtel- und den Fünfachteljuden und bezogen diese Menschen in ihre Überlegungen und ihre Gesetze mit ein.

Wenn diese Züchtungsanalyse, die einem Besitzer eines Hundezwingers vielleicht alle Ehre gemacht hätte, nicht so tragische und so fürchterliche Konsequenzen gehabt hätte, wäre das ein Stoff für ein Lustspiel. Da hieß es in der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, §2, im Absatz 6: «Eine Erleichterung der Entscheidung ist weiter darin zu erblicken, dass ein Großelternteil, wenn es sich um die rassische Einordnung eines Enkels als Mischling handelt, nur dann als jüdisch zu bewerten ist, wenn er volljüdisch ist; ein Großelternteil, der nicht volljüdisch ist, wird dagegen nicht als jüdisch angesehen. Es scheiden damit bei der rassischen Einordnung einer Person alle Fälle aus, in denen die Großeltern selbst nicht reinblütige Juden, sondern blutmäßige Mischlinge waren. Wenn eine Person mehrere Großelternteile besitzt, die jüdischen Bluteinschlag aufweisen, aber nicht volljüdisch sind, wird das Blut dieser Großelternteile bei der rassischen Einordnung eines Enkels nicht zusammengerechnet, sie fallen vielmehr als Juden aus. Die Zahl derartiger Fälle fällt praktisch nicht ins Gewicht. Die Regelung in § 2, Absatz 2, hat demnach von einem Zurückgehen auf die Urgroßelterngeneration grundsätzlich abgesehen; so genannte Dreiachteljuden und Fünfachteljuden spielen entgegen dem bisherigen Zustand nunmehr in der Praxis keine Rolle mehr. Der Dreiachteljude, der einen volljüdischen und einen halbjüdischen Großelternteil besitzt, gilt als Mischling mit einem volljüdischen Großelternteil, der Fünfachteljude mit zwei volljüdischen und einem halbjüdischen Großelternteil als Mischling mit zwei volljüdischen Großeltern.»

Und so ging das weiter. Diese ganze Rassengesetzgebung wurde von den Bürokraten durchgerechnet und durchgespielt. Sie konnten präzise ermessen, wer Jude war. Wer Jude war, hatte in ihrem großdeutschen Reich keine Chance.

Unerheblich für sie war das Leben, das Lieben, das Hoffen, das Sehnen, das Träumen, das Glück der von ihnen so Gezeichneten, so Verachteten, so Verachtelten.


Ein praktisches Beispiel zur Rasseneinteilung in der NS-Zeit, geradezu schade, dass es bei den Menschen keine getigerten, gefleckten, gestreiften und getupften Varianten gibt:
Die europäischen Rassen laut Brockhaus-Lexikon aus der Nazi-Zeit, es handelt sich dabei um folgende "Rassen": Bild 1, nordische Rasse (Schwede), Bild 2, Nordische Rasse (Dithmarschen, Westholstein), Bild 3, Fälische Rasse, Bild 4, Dinarische Rasse (Schwarzwald), Bild 5, Dinarische Rasse (Bayern), Bild 6, Ostische Rasse, Bild 7, Ostische Rasse, Bild 8, Ostbaltische Rasse, Bild 9, Westische Rasse, Bild 10, Lappin, Bild 11, Jüdin vorderasiatischer Rasse, Bild 12, Jude orientalischer Rasse