Die österreichische Nation

Dr. Alfred Klahr und seine Thesen über die
Entwicklung einer eigenständigen österreichischen Nation.

Hier der Text von 1937, in dem Klahr erstmals die Entwicklung einer eigenen österreichischen Nation darlegte. Für den Nachdruck wurde der ungekürzte und unbearbeitete Originaltext, wie er in der Buchausgabe von 1994 (Alfred Klahr, Zur österreichischen Nation, Globus Verlag Wien) wiedergegeben wird, verwendet. Lediglich die offensichtlichen Druckfehler wurden berichtigt.

Da Klahr Funktionär der KPÖ war, hatte er sich damals zu dieser Frage unvermeidbar auf Stalins Text "Marxismus und nationale Frage" zu berufen. Was aber der Arbeit Klahrs keinen Abbruch tut, da Stalin flexibel auslegbar ist: In einer Polemik gegen die Theorie Klahrs versuchte 1938 der bekannte Sozialdemokrat Karl Czernetz (1975 - 1978 Präsident des Europarates) mit Zitaten aus demselben Text Stalins die Nichtexistenz einer österreichischen Nation zu belegen, denn "diese Autorität werden unsere kommunistischen Freunde doch anerkennen", wie er spöttisch schrieb.

Aber nach 1945 hat sich die Entwicklung Österreichs zu einer eigenen Nation auch im Bewusstsein einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung vollzogen. Die Österreicher sind eine eigene Nation, diesem Satz stimmten zu:

1964

47%

1973

56%

1982

67%

1989

78%

1996

79%

1999

83%

Der Text, der sich erstmals grundlegend mit der Nationswerdung der Österreicher auseinandersetzte, ist im längst österreichischen Österreich auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts absolut unbekannt und wird es auch bleiben müssen. Schließlich stammt er von einem jüdischen Bolschewisten.

Zur Person des Autors: Alfred Klahr wurde am 16. September 1904 als Sohn eines Angestellten der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde geboren, die Familie war in einem Viertel ansässig, in dem hauptsächlich ärmere Juden lebten. Die dortigen tristen Zustände schärften bereits als Heranwachsenden Klahrs Blick für gesellschaftliche Verhältnisse, er trat daher der Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler bei, später trat er mit einer Gruppe anderer VSM-Mitglieder zum Kommunistischen Jugendverband über.

Nach der Matura studierte Klahr und dissertierte 1928 zum Doktor der Staatswissenschaften. Als Kommunist hatte er keine Möglichkeit eine Arbeitsstelle zu finden, so ging er zunächst nach Berlin und arbeitete dort als Journalistenpraktikant beim Zentralorgan der KPD, der Roten Fahne, anschließend bei der gleichnamigen Parteizeitung in Wien. 1930 bis 1932 war er als Vertreter des Kommunistischen Jugendverbandes in Moskau. Danach wurde er mit der Position des stellvertretenden Chefredakteurs der Roten Fahne betraut. Nach dem am 26. Mai 1933 erfolgten Verbot der KPÖ war er mehrmals kurzzeitig inhaftiert, Ende 1934 konnte er nach Prag emigrieren und arbeitete dort weiter an der Erstellung der (jetzt illegal erscheinenden) Roten Fahne.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland war der Anlass für die verstärkte Beschäftigung mit Nationalitätenfragen. Nach einer Festnahme in Prag emigrierte er weiter nach Moskau und war 1935 bis 1937 Leiter der österreichischen Abteilung der Lenin-Schule. Dort hatte er auch die notwendigen Unterlagen zur weiteren Beschäftigung mit der Nationalitätenfrage. Er kam dabei mehr und mehr zur Überzeugung, dass die auch in der österreichischen Arbeiterbewegung vorhandenen großdeutschen Traditionen überholt und für die weitere Entwicklung hinderlich wären. Seine theoretischen Ansätze wurden anfangs jedoch sowohl von seinen österreichischen Genossen als auch von den deutschen und sowjetischen abgelehnt. Unterstützt wurde Klahr durch Dimitroff, den Generalsekretär der Kommunistischen Internationale. Schließlich veröffentlichte er 1937 im theoretischen Organ der KPÖ, Weg und Ziel, zwei Artikel, die erstmals die Theorie der eigenständigen Nationsentwicklung der Österreicher darlegten.

Die stalinistischen Säuberungswellen führten auch zu Problemen Klahrs mit der Leitung der Lenin-Schule und so verließ er 1937 rechtzeitig die Sowjetunion, hielt sich danach in Prag und später in Brüssel auf, wo er wieder für die Rote Fahne arbeitete.

Nach der Besetzung Belgiens im Mai 1940 wurde Klahr zusammen mit anderen Emigranten nach Südfrankreich deportiert. Im August 1940 gelang ihm die Flucht aus dem Internierungslager, er versteckte sich in verschiedenen Städten im unbesetzten Gebiet. Nach dem Überfall Deutschlands auf die UdSSR im folgenden Jahr, schickte die Partei Klahr mit falschen Papieren, ausgestellt auf den lettischen Namen Lokmanis, in die Schweiz, wo ihm diese Papiere zum Verhängnis wurden. Nach einer Ausweiskontrolle wurde er festgenommen und nach Frankreich abgeschoben und dort wieder interniert.

Im August 1942 erfolgte der Abtransport ins KZ Auschwitz, wo er unter dem falschen lettischen Namen inhaftiert war. Die kommunistische Widerstandsgruppe im KZ rettete Klahr vor der Selektion und brachte ihn als Schreiber unter.

Im Frühjahr 1944 wurde für einige wichtige Funktionäre die Flucht aus dem KZ organisiert, Ende Juni gelang Klahr zusammen mit einem polnischen Häftling der Ausbruch aus dem Lager. Leider klappte der vereinbarte Kontakt mit einer polnischen Partisanengruppe nicht und die beiden Flüchtlinge schlugen sich alleine nach Warschau durch.

Da Klahrs Fluchtgefährte später im Warschauer Aufstand gefallen ist, blieb das genaue Schicksal Klahrs unbekannt. Es wurde nur weiter gemeldet, dass Alfred Klahr, nachdem die beiden unterstandslos durch Warschau geirrt waren, im Juni oder Juli 1944 von einer deutschen Streife erschossen worden sei. Das genaue Todesdatum konnte nicht eruiert werden.


Dr. Alfred Klahr

Zur nationalen Frage in Österreich

1.Teil

(Weg und Ziel, (Jg. 2 (1937), Nr. 3 und 4, veröffentlicht unter dem Verfasserpseudonym "Rudolf", die Zeitschrift erschien illegal, die KPÖ war in Österreich seit 26.5.1933 verboten.)

Die Redaktion von " Weg und Ziel" eröffnet mit diesem bedeutungsvollen Artikel, dem weitere Artikel des Verfassers folgen werden, eine Diskussion über die Nationale Frage in Österreich. Gerade angesichts der letzten Entwicklung in Österreich, angesichts der vom Ständesystem erfolgten Proklamierung Österreichs zu einem "zweiten deutschen Staat" wird eine marxistische Überprüfung des Verhältnisses der deutschen Österreicher zur deutschen Nation zur dringenden Notwendigkeit.

Seit fast vier Jahren, seit dem Machtantritt Hitlers im Deutschen Reich, steht im Brennpunkt des politischen Kampfes in Österreich die staatliche Unabhängigkeit des Landes. Diese Frage bildete die Scheidelinie nicht nur im blutigen Machtkampf zwischen dem herrschenden reaktionären Block und dem Nationalsozialismus, sondern auch zwischen den Massen des Volkes und dem Nationalsozialismus. Nicht bloß irgendwelche kleine politische Konventikel beschäftigten sich mit dieser Frage, die Massen des Volkes selbst wurden aufgewühlt von der Alternative: Erhaltung der Unabhängigkeit Österreichs oder Anschluss an Deutschland.

Die Kommunistische Partei, die ganze revolutionäre Arbeiterbewegung hat eindeutig für die staatliche Unabhängigkeit Österreichs Stellung genommen. Aber noch haben wir das Problem der nationalen Orientierung des österreichischen Volkes, das dem an der Oberfläche tobenden politischen Kampf zu Grunde liegt, ungeklärt gelassen, noch keine prinzipielle Antwort auf die nationale Frage in Österreich gegebene .

Worin besteht überhaupt die nationale Frage in Österreich? Die Erfahrungen der Revolutionsjahre 1918-1919, das Verbot der Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechtes in der Richtung des Zusammenschlusses mit Deutschland, das im Friedensvertrag von St. Germain enthalten ist und später bekräftigt wurde, die Nachkriegshaltung der Sozialdemokratie in dieser Frage, der berechtigte Hass der Massen gegen das Joch der Dollfuß und Schuschnigg-Diktatur haben dazu geführt, dass unter der nationalen Frage in Österreich die Anschlussfrage, dass unter der nationalen Bewegung die deutsch-nationale (inbegriffen die nationalsozialistische) Bewegung verstanden wurde. Das nationale Problem in Österreich wird dabei als ein Teilproblem der allgemeinen in verschiedenen an Deutschland grenzenden Gebieten Europas eine Rolle spielenden deutschen nationalen Frage überhaupt aufgefasst. Und man glaubt, den Erfordernissen marxistischer Analyse Genüge getan zu haben, wenn man noch überlegt: 1848 war der großdeutsche Gedanke fortschrittlich, revolutionär; daher ist Marx für die Bildung einer großdeutschen Republik eingetreten, während er die nationale Bewegung der Tschechen, die damals einen Vorposten des Zarismus in Mitteleuropa bildete und historisch-reaktionär wirkte, bekämpfte. Heute ist der großdeutsche Gedanke reaktionär, heute sind die deutschnationalen Bewegungen nur Vorposten des Hitlerfaschismus, des Hauptfeindes des internationalen Proletariats, der internationalen Demokratie überhaupt. Daher müssen sie bekämpft, der Anschluss an Deutschland überall abgelehnt werden.

Dies ist heute im allgemeinen für jede deutschnationale Bewegung und daher auch für die deutsch-nationalen Bestrebungen in Österreich richtig. Aber diese Feststellung ist gleichzeitig ganz ungenügend und ungeeignet, um die konkrete Eigenart des nationalen Problems in Österreich zu erfassen. In Österreich gibt es nicht eine nationale Unterdrückung im üblichen Sinne, d.h. durch eine andere im Staate herrschende Nation. Österreich war auch nicht, wie Danzig oder das Saargebiet, ein Teil des Deutschen Reiches (nach dessen nationaler Einigung im Jahre 1871), der durch die Gewalt der Friedensverträge von diesem losgerissen wurde. Die nationale Frage in Österreich ist eben nicht ein Teil der allgemeinen deutschen nationalen Frage in den verschiedenen Gegenden Europas. Gerade um die konkrete Eigenart der nationalen Frage in Österreich geht es aber, wenn die Kommunistische Partei Österreichs ihr nationales Programm gegenüber allen verschiedenen faschistischen Gruppen in Österreich herausarbeiten will. Betrachten wir die nationale Frage in Österreich zuerst allgemein-theoretisch, dann in ihrer historischen Entwicklung, um schließlich daraus einige prinzipielle und taktische Schlussfolgerungen zu ziehen.

Wenn man die Frage nach der nationalen Zugehörigkeit des österreichischen Volkes stellt, so bekommt man im allgemeinen die Antwort: das österreichische Volk sei "selbstverständlich" ein Teil der deutschen Nation. Das ist theoretisch die wichtigste Frage, über die wir Klarheit schaffen müssen. Die "Selbstverständlichkeit", mit der diese Antwort im allgemeinen gegeben wird, kommt daher, dass die Nation als Sprach- und Kulturgemeinschaft aufgefasst wird. Man meint gerade die gemeinsamen sprachlichen und bestimmte gemeinsame kulturelle Bande, wenn man die Deutschen Österreichs und die Deutschen im Reich als eine Nation, als national "selbstverständlich" zusammengehörig erklärt.

Auch in den Kreisen der revolutionären Arbeiterbewegung wurde dieser Gedanke, das österreichische Volk sei ein Teil der deutschen Nation, vielfach ebenso "selbstverständlich", einem Dogma gleich, als Ausgangspunkt für jede Erörterung des nationalen Programms hingenommen. Diese Tatsache, die eher einem übernommenen Vorurteil, denn einem kritischen Urteil entsprang, ist u.a. auf zwei Umstände zurückzuführen. Erstens haben Marx und Engels im Jahre 1848 und später die Zertrümmerung der Habsburger-Monarchie und die Vereinigung der deutschen Österreicher mit den übrigen deutschen Stämmen zu einer einheitlichen deutschen Nation als demokratisch-revolutionäre Aufgabe und Perspektive betrachtet. Andererseits hängt diese vorgefasste Meinung der Zugehörigkeit zur deutschen Nation damit zusammen, dass in der österreichischen Arbeiterbewegung bisher der falsche Begriff der Nation, wie ihn Otto Bauer 1907 geprägt, vorgeherrscht hat, während die marxistisch-leninistische Theorie der Nation, wie sie Genosse Stalin 1912-1913 ausgearbeitet hat, bis in die letzte Zeit leider ziemlich unbekannt blieb. Daher wollen wir einige der Grundgedanken der Stalinschen Theorie hier anführen und daraus Schlüsse für unser Problem ziehen.

Zunächst zeigt Stalin, dass man streng unterscheiden muss zwischen dem Begriff Volksstamm und dem Begriff Nation. Der Volksstamm - das ist ein ethnographischer Begriff, ein Begriff der Völkerkunde, ein unhistorischer Begriff. Von deutschen Volksstämmen z.B. kann man ebenso in der Zeit des Sippenkommunismus als im Zeitalter des Feudalismus, als im Zeitalter des Kapitalismus sprechen. Die Nation jedoch ist ein historischer Begriff. Die Bildung der Nationen war erst in einer bestimmten historischen Epoche, war nicht vor der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus und des Kampfes gegen den Feudalismus möglich. Zwei Völker, die ethnographisch dasselbe sind und auch dieselbe Sprache sprechen, können sehr wohl sich zu verschiedenen Nationen entwickelt haben (z.B. Engländer und Amerikaner, Kroaten und Serben), während umgekehrt in der Regel verschiedene Volksstämme zu einer Nation verschmolzen sind (z.B. bildete sich die heutige italienische Nation aus Römern, Germanen, Etruskern, Griechen usw.).

Stalin gibt folgende Definition für die Nation: "Die Nation ist eine historisch entstandene, stabile Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der in der Kulturgemeinschaft zum Ausdruck kommenden Geistesart." Stalin gibt also vier Merkmale an: Gemeinschaft der Sprache, Gemeinschaft des Territoriums, Gemeinschaft des Wirtschaftslebens und Gemeinschaft der Geistesart oder, wie sie auch anders genannt wird, des "nationalen Charakters", der sich in den Besonderheiten der nationalen Kultur bzw. in der Kulturgemeinschaft des betreffenden Volkes ausdrückt. Wodurch unterscheidet sich diese Definition Stalins von anderen Definitionen, darunter auch von der Definition Otto Bauers? Die Definition von Stalin ist die einzig marxistische, ist eine historisch-materialistische, sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung, die das gemeinsame Wirtschaftsleben und das gemeinsame Territorium für die Entstehung einer Nation haben! Dem stehen die bürgerlichen und auch die sozialdemokratischen (Otto Bauers) Auffassungen der Nation gegenüber, die in idealistischer Art die Besonderheit des "nationalen Charakters" oder der Kultur- und Sprachgemeinschaft als das allein ausschlaggebende Merkmal der Nation hervorheben. Diese Auffassungen können die vielfältige Wirklichkeit der Entstehung und des Lebens der Nationen nicht erklären, sie sind unmarxistisch, sind falsch und daher zu bekämpfen.

Genosse Stalin fährt fort: "Es muss hervorgehoben werden, dass keines der angeführten Merkmale, einzeln genommen, zur Definition des Begriffes Nation ausreicht. Mehr noch: es genügt, dass auch nur eines dieser Merkmale fehlt, damit die Nation aufhört, Nation zu sein." Denn wenn z.B. die Gemeinschaft des Wirtschaftslebens oder des Territoriums wegfällt, so kann es nicht mehr jenes enge, gemeinsame Leben und gemeinsame Erleben der Menschen von Generation zu Generation geben, ohne das eine Nation weder entstehen noch bestehen kann. Das ist für das nationale Problem in Österreich sehr wichtig, weil gerade diese Gemeinsamkeit zwischen den deutschen Österreichern und den Deutschen im Reich fehlt. Und andererseits gibt es zahlreiche Beispiele, dass nicht alle, die ein und dieselbe Sprache sprechen, unbedingt eine Nation bilden: so z.B. sprechen Engländer und Amerikaner, Dänen und Norweger, Serben und Kroaten die gleiche Sprache, bilden aber verschiedene Nationen. In diesen Fällen hat eben das Fehlen anderer wesentlicher Merkmale (Gemeinschaft des Wirtschaftslebens, des Territoriums), hat die konkrete geschichtliche Wirklichkeit zur Herausbildung verschiedener Nationen geführt.

Stalin zeigt an einem sehr interessanten und klaren Beispiel auf, wie die Georgier zu einer Nation wurden: "Die Georgier der Zeit vor der Reform lebten auf einem gemeinsamen Territorium und sprachen eine und dieselbe Sprache, und dennoch bildeten sie, strenggenommen, keine einheitliche Nation, da sie in eine ganze Reihe voneinander getrennter Fürstentümer zersplittert, kein gemeinsames Wirtschaftsleben führen konnten, sich unter einander jahrhundertlang befehdeten, sich gegenseitig ruinierten ... Georgien als Nation trat erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung, als der Fall der Leibeigenschaft und das Wachstum des wirtschaftlichen Lebens des Landes, die Entwicklung der Verkehrswege und die Entstehung des Kapitalismus eine Arbeitsteilung unter den einzelnen Gebieten Georgiens herbeiführten, die wirtschaftliche Abgeschlossenheit der Fürstentümer endgültig untergruben und sie zu einem Ganzen zusammenfügten" (Hervorhebungen von mir. R.). So hängt die Entstehung der georgischen Nation mit der Entwicklung des Kapitalismus zusammen.

Der Vergleich mit den deutschen Verhältnissen drängt sich geradezu zwangsläufig auf. Die Deutschen lebten auf einem gemeinsamen Territorium und sprachen dieselbe Sprache, aber wirtschaftlich rückständig und politisch zersplittert, wie sie waren, bildeten sie bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts "streng genommen keine einheitliche Nation". Noch am Vorabend der großen bürgerlichen Revolution in Frankreich (1789) gab es auf dem gemeinsamen Territorium der Deutschen über 300 kleinere und größere wirtschaftlich abgeschlossene, politisch voneinander unabhängige, deutsche Fürstentümer, die sich oft einzeln oder in größeren Koalitionen gegenseitig bekriegten. Das "Heilige Römische Reich Deutscher Nation", das unter Habsburg bis 1806 bestand, bezog sich bestenfalls auf einige wenige repräsentative Akte, änderte aber nichts an dieser wirtschaftlichen und politischen Zersplitterung, an der schrecklichen "deutschen Misere". Erst die Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus drängte dazu, Deutschland "zu einem Ganzen zusammenzufügen", drängte zur Herstellung der "Einheit der Nation". Der Kampf um die Einheit der Nation steht im Mittelpunkt der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts bis 1871. Eine einheitliche deutsche Nation, die auch den deutschen Stamm in Österreich mit eingeschlossen hat, hat es aber - "streng genommen" - bisher in der Geschichte nie gegeben. Als sich die deutschen Stämme nach 1866 zur einheitlichen deutschen Nation zusammengeschlossen haben, oder richtiger gesagt, als 1871 durch Bildung des Deutschen Reiches endlich die Voraussetzungen für das Aufgehen der verschiedenen deutschen Stämme in einer einheitlichen Nation geschaffen wurden, da blieb der deutsche Stamm in Österreich, kraft der historischen Verhältnisse, außerhalb dieser Gemeinschaft, beziehungsweise wurde er aus dieser Gemeinschaft endgültig hinausgedrängt. Das ist die erste Feststellung, die wir bei der Lösung der nationalen Frage in Österreich festhalten müssen.

Stalin polemisiert im weiteren gegen Otto Bauers Theorie der Nation. Otto Bauer definiert die Nation als "die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen". Dadurch, dass die Menschen unter gemeinsamen Bedingungen ihren Lebensunterhalt produzieren und so ein gemeinsames Schicksal erleben, bildet sich bei ihnen ein bestimmter gemeinsamer Charakter heraus und eben diese Charaktergemeinschaft sei das Merkmal einer Nation, sei das, was von anderen Nationen unterscheidet.

Otto Bauers Begriff der Nation ist idealistisch und unhistorisch. Aber diese völlig unmarxistische Theorie der Nation hat in der österreichischen Arbeiterbewegung vorgeherrscht und mit dazu geführt, dass das österreichische Volk "selbstverständlich" als Teil der deutschen Nation aufgefasst wurde. Otto Bauers Begriff ist idealistisch , denn er erklärt das ideologische Merkmal der nationalen Charaktergemeinschaft als das ausschlaggebende Merkmal der Nation, ohne es in den notwendigen Zusammenhang mit den anderen Merkmalen, mit der Gemeinschaft des Territoriums und des Wirtschaftslebens zu bringen, aus denen es erwächst. Zur Widerlegung dieser idealistischen Theorie Otto Bauers verweist Genosse Stalin auf das interessante Beispiel der amerikanischen Nation, die durch Auswanderung eines Teiles der Engländer entstanden ist. Im Prozess der Entstehung der amerikanischen Nation hat übrigens der Kampf um die staatliche Unabhängigkeit, den die Nordamerikaner gegen das Mutterland geführt haben und der im Unabhängigkeitskrieg 1783 gegipfelt hat, eine ganz bedeutende Rolle gespielt. Stalin fragt: "Wodurch soll sich eigentlich die englische Nation von der nordamerikanischen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterschieden haben, als Nordamerika noch ,Neu-England' hieß? Natürlich nicht durch den ,Nationalcharakter', denn die Nordamerikaner brachten aus der alten Heimat neben der englischen Sprache auch den englischen Nationalcharakter mit, den sie natürlich nicht so rasch verlieren konnten, obwohl sich unter dem Einfluss der neuen Bedingungen bei ihnen ein besonderer Charakter ausbilden musste. Und dennoch bildeten sie damals schon, trotz ihrer größeren oder geringeren Charaktergemeinschaft, eine von England gesonderte Nation. Offenbar unterschied sich damals ,Neu-England' als Nation von England nicht durch einen besonderen Nationalcharakter oder nicht so sehr durch den Nationalcharakter als durch die von England verschiedene Umgebung, verschiedenen Lebensbedingungen" (hervorgehoben von mir, R.). Dies ist ein wichtiger Fingerzeig für uns, wie wir an die Untersuchung des Unterschiedes zwischen deutschen Österreichern und Deutschen im Reich herangehen müssen. Damit ist nicht nur Otto Bauers Begriff der Nation widerlegt; Stalin zieht daraus noch eine Schlussfolgerung, die bei der Lösung der nationalen Frage in Österreich wichtig ist: "Somit steht fest, dass in Wirklichkeit kein Merkmal besteht, das allein an sich die Nation charakterisiert. Es besteht nur eine Summe von Merkmalen, aus denen bei der Gegenüberstellung der Nationen bald ein Merkmal (Nationalcharakter), bald ein zweites (Sprache), bald ein drittes (Territorium, wirtschaftliche Verbindung) hervorspringt. Die Nation ist eine Kombination aller Merkmale zusammengenommen." Welches Merkmal bei der Gegenüberstellung von zwei Nationen besonders "hervorspringt", welches Merkmal den Unterschied begründet, das kann man nur aus einer konkreten historischen Untersuchung der Entwicklung der betreffenden Völker erkennen. In unserem Fall sind es das besondere Wirtschaftsleben, die "verschiedenen Lebensbedingungen" der Österreicher seit vielen Jahrzehnten.

Otto Bauers Begriff der Nation ist auch völlig unhistorisch. Bei ihm ist die Nation auch eine "Naturgemeinschaft", d.h. Bluts- und Abstammungsgemeinschaft. Bei ihm ergibt sich daraus die kuriose, moderne Nazitheorien vorwegnehmende Idee, dass die Germanen schon im Zeitalter des Sippschaftskommunismus und in der feudalen Gesellschaft des Mittelalters eine Nation bildeten! "Bauer verwechselt offenbar die Nation als historische Kategorie mit dem Volksstamm, der eine ethnographische Kategorie darstellt." (Stalin).

Für Otto Bauer ist die Nation in Wirklichkeit ein geschichtsloser, ein ewiger Begriff ohne Anfang und ohne Ende, sie war immer und wird immer sein, nur dass der Kreis der Menschen, die in die nationale Kulturgemeinschaft einbezogen sind, ständig wächst. Auch die deutsche Nation war nach Bauer immer vorhanden und ist nicht erst ein Produkt der historischen Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts, ein Produkt der Entwicklung des Kapitalismus und der Überwindung des Feudalismus in Deutschland. Wenn man die Begriffe so durcheinanderwirft, wenn man so unmarxistisch, so unhistorisch an die Frage herangeht, wie es Bauer macht, dann kann man "natürlich" leicht darlegen, dass das österreichische Volk (als ein deutscher Volksstamm) ein "Teil der deutschen Nation" immer gewesen ist und "selbstverständlich" auch heute ist, wobei die staatliche Trennung, die seit langem verschiedene wirtschaftliche und politische Lebensverhältnisse begründete, keine Rolle spielt.

In dieser Beziehung steht Otto Bauer auf einer Linie mit verschiedenen bürgerlichen Auffassungen der Nation, z.B. auch mit der eines Seipel oder Schuschnigg. Für sie ist die Nation Sprach- und Kulturgemeinschaft oder auch Bluts- und Abstammungsgemeinschaft. Wenn Seipel die Nation als "eine in der Gleichheit der Sprache und Kultur zum Ausdruck kommende Bluts- und Schicksalsgemeinschaft" (Vortrag in der Pariser Sorbonne vom 3. Juni 1926) definiert, wenn Seipel einmal (Stuttgart, 25. VIII. 1925, Generalversammlung der Katholiken Deutschlands) meinte, dass "die Deutschen als Kultureinheit eine Nation" sind, so kann man nur sagen: mag ein Seipel den historischen Begriff der Nation und den ethnographischen des Volksstammes (Stammesgemeinschaft) auseinanderhalten oder durcheinanderwerfen, mag er die Nation als Kultureinheit auffassen und vom Territorium und dem Wirtschaftsleben absehen, das ist seine Sache als bürgerlicher Ideologe, der ja - zum Unterschied von Otto Bauer - keinen Anspruch darauf erhebt, Marxist zu sein. Aber es ist Zeit, dass dieses bürgerlich-idealistische Durcheinander, das durch Otto Bauer in die österreichische Arbeiterklasse in dieser Frage hineingetragen wurde, von den österreichischen Kommunisten aus den Reihen der Arbeiterschaft hinausgeworfen wird. Das ist umso notwendiger, weil ohne das ein klares politisches Programm in der nationalen Frage unmöglich wird.

Betrachten wir unsere theoretische Hauptfrage noch von einer anderen Seite. Man sagt oft: Wir Österreicher sind Deutsche. Schuschnigg sagt auch: Wir sind der zweite deutsche Staat. Stimmt dies? Natürlich sind wir auch Deutsche, aber man muss fragen, in welchem Sinne. Z.B. nennen sich sowohl die Tataren der Krim und auch die der Tatarischen Autonomen Republik Tataren. Und doch stellen beide zwei verschiedene Nationen dar. Allerdings ist die historische Auseinanderentwicklung dieser beiden tatarischen Stämme bereits soweit gediehen, haben sie sich unter so verschiedenen Kultureinflüssen entwickelt, dass beide schon eine verschiedene Sprache sprechen. Nehmen wir z.B. die Wolgadeutschen. Sind sie Deutsche? Natürlich. Das Wort "deutsch" sagt hier nur, dass sie nicht Russen und nicht Ukrainer sind, sondern ein deutschsprechendes Volk. Das Wort "deutsch" bezeichnet hier die Sprache, die Abstammung, die Herkunft, aber sagt nichts über den nationalen Charakter, gibt keine Antwort auf die Frage, ob die Wolgadeutschen ein Teil der deutschen Nation sind. Nichts anderes bedeutet es, wenn wir sagen, dass wir Österreicher Deutsche sind. Damit hebt man bloß hervor, dass wir eben keine Engländer oder Franzosen, keine Italiener oder Tschechen sind, ebenso wie man damit den Unterschied der Deutschschweizer gegenüber dem Italienisch- oder Französischschweizer hervorhebt. Wir meinen damit, dass die Österreicher die deutsche Sprache sprechen, am deutschen Kulturerbe teilhaben, dass sie (ethnographisch) ein deutscher Stamm sind. Aber daraus folgt keinesfalls - ebenso wenig wie beim Deutschschweizer -, dass das österreichische Volk zur deutschen Nation gehört, einen Teil der deutschen Nation bildet.

So ist das Ergebnis dieser kurzen Untersuchung dies: Die Auffassung, dass das österreichische Volk ein Teil der deutschen Nation ist, ist theoretisch unbegründet. Eine Einheit der deutschen Nation, in der auch die Österreicher miteinbezogen sind, hat es bisher nie gegeben und gibt es auch heute nicht. Das Österreichische Volk hat unter anderen wirtschaftlichen und Politischen Lebensbedingungen gelebt als die übrigen Deutschen im Reich und daher eine andere nationale Entwicklung genommen. Wie weit bei ihnen der Prozess der Herausbildung zu einer besonderen Nation fortgeschritten ist bzw. wie eng noch die nationalen Bindungen aus der gemeinsamen Abstammung und gemeinsamen Sprache sind - kann nur eine konkrete Untersuchung seiner Geschichte ergeben.

Wir können darauf und auf die prinzipiellen und taktischen Schlussfolgerungen im Rahmen dieses Artikels nicht näher eingehen und werden dies gesondert behandeln. Doch sei hier vorweggenommen: Die bürgerliche Revolution von 1848 stellte sich zur Aufgabe, die staatliche Einheit der deutschen Nation unter Einbeziehung der Deutschen in Österreich zu verwirklichen, was nur gegen die beiden Dynastien Habsburg und Hohenzollern möglich war. Das war auch das Ziel der revolutionären Vorhut der Arbeiterklasse und des demokratischen Kleinbürgertums in Österreich. Die Revolution wurde geschlagen. Die österreichische Bourgeoisie verband sich in ihren entscheidenden Schichten gegen diese Lösung der deutschen Frage mit den feudalen Klassen, mit der Habsburg-Dynastie. Sie war ökonomisch an der Beherrschung des Donauraums interessiert und daher nur bedingt deutsch, aber vor allem österreichisch orientiert. Der Ausgang des Krieges 1866 zog den Schlussstrich unter eine Entwicklung, die schon Jahrzehnte vorher begonnen hatte und die deutschen Österreicher ökonomisch und politisch vom übrigen Deutschland trennte. Auf dieser Grundlage der Trennung vom übrigen Deutschland, des Lebens unter anderen Bedingungen entwickelte sich in den Massen des österreichischen Volkes eine besondere nationale Eigenart, eine österreichische Orientierung, die die Trennung von Deutschland nicht bloß als vorübergehend empfand und die auf die Erhaltung der Selbständigkeit gegenüber dem übrigen Deutschland gerichtet war. Diese Orientierung hatten nicht nur die entscheidenden Schichten der österreichischen Bourgeoisie (wir sprechen von jenem Gebiet, das das heutige Österreich bildet) und die Massen des Bauerntums und Kleinbürgertums, die unter dem Einfluss der katholischen Kirche und der christlich-sozialen Partei standen. Diese Einstellung bildete sich auch in der österreichischen Arbeiterklasse vor der Jahrhundertwende zum Unterschied von ihrer Haltung 1848 heraus.

Das Eigenartige der nationalen Entwicklung in Österreich liegt aber darin, dass dieser Orientierung eine andere, eine deutsch-nationale Orientierung entgegenstand, die vorwiegend kleinbürgerliche und bürgerliche Schichten, insbesondere große Teile der Intelligenz erfasste. Diese blieb unter den besonderen Verhältnissen der Monarchie sozial unbefriedigt und orientierte sich daher national auf Deutschland. Sie empfand die Trennung von Deutschland als vorübergehend und betrachtete als ihr nationales Ziel den Zusammenschluss mit dem übrigen Deutschland. Der Kampf dieser beiden nationalen Tendenzen, die mitten durch das österreichische Volk gehen, erfüllt die österreichische Geschichte. Deshalb ist die nationale Entwicklung der deutschen Österreicher zu einer besonderen österreichischen Nation nicht abgeschlossen.

Die Revolution von 1918/19 und die Zerschlagung der Habsburg-Monarchie brachten noch einmal - nach 1848 - eine historische Chance der Lösung der nationalen Frage der deutschen Österreicher im Sinne der deutschen Einheit. Der Fortschritt der Reaktion im Deutschland der Weimarer Verfassung, der Abschluss der Revolution in Österreich (Frieden von St. Germain) haben die Massen dem Anschlussgedanken entfremdet, der später in den großen Kämpfen der Arbeiterschaft in der Nachkriegszeit politisch nicht in Erscheinung trat, entgegen den programmatischen Erklärungen der SP. Die beiden entgegengesetzten nationalen Tendenzen wirkten auf der Grundlage der neuen Nachkriegsverhältnisse weiter, die österreichische trotz, die deutsche infolge der nunmehrigen Kleinheit des Landes. Die Machtergreifung Hitlers in Deutschland hat wie in ganz Europa die nationale Frage, so auch besonders in Österreich den Kampf der beiden nationalen Richtungen verschärft. In der Abwehr der Annexionsbestrebungen des deutschen Faschismus, der sich dabei auf die deutsch-nationalen (nationalsozialistischen) Kreise im österreichischen Volke stützte, im Kampf um die Erhaltung der Unabhängigkeit des Landes stärkte sich in den breiten Massen das nationale österreichische Bewusstsein, das Bewusstsein ihrer nationalen Besonderheit gegenüber Deutschland. Die reaktionärsten Kreise des österreichischen Finanzkapitals, das verflochten ist mit dem Großgrundbesitz und verbündet mit den Spitzen der Kirche, haben diese nationalen Gefühle der Massen ausgenützt, um im Konkurrenzkampf gegen den deutschen Faschismus (1933/34/35), nach Niederschlagung der Arbeiterklasse ihre Diktatur unter Dollfuß und Schuschnigg aufzurichten. Diese Diktatur gibt sich dabei als Beschützer der Selbständigkeit Österreichs, während sie in der Tat ihr Totengräber ist, indem sie alle revolutionären und demokratischen Kräfte im österreichischen Volke, die entschiedensten Kämpfer gegen den Nationalsozialismus, brutal niederhält.

Die Arbeiterklasse hat durch ihren bisherigen Kampf faktisch in der Richtung der Entwicklung dieser österreichischen nationalen Eigenart, der österreichischen Nation gewirkt. Die bewusste Erkenntnis dieser Zusammenhänge wird ihr eine Waffe geben, die sich gegen die Faschisten und Reaktionäre aller Farben richtet. Im Kampfe um die Unabhängigkeit Österreichs gegen Hitler betonen wir die besonders enge Solidarität des österreichischen unterdrückten Volkes mit dem unterdrückten deutschen Volke, besonders eng infolge der nationalen Verwandtschaft (Gemeinschaft der Abstammung), infolge der Gemeinsamkeit der Sprache und eines großen Teiles des Kulturerbes. Wir enthüllen die Demagogie des herrschenden Regimes, Verteidiger der Unabhängigkeit Österreichs zu sein, und machen jene nationalen Gefühle im österreichischen Volke, auf die es sich stützte, zu einer Waffe gegen dieses Regime selbst. Wir treten damit auch der Habsburg-Propaganda entgegen, die den Begriff "Österreich" im Sinne ihrer imperialistischen Bestrebungen nicht als nationalen, sondern nur als "übernationalen" Begriff anerkennt, und zeigen auf, dass Habsburg wirklich "über" allen Nationen der ehemaligen Monarchie stand, weil es eine alle Nationen unterdrückende, allen Nationen, inbegriffen die deutschen Österreicher, fremde Macht war und ist. Die Arbeiterklasse stellt sich damit an die Spitze des österreichischen Volkes im Kampfe um seine nationale Freiheit und Selbstbestimmung, d.h. heute um die Erhaltung seiner nationalen Unabhängigkeit. Dieser Kampf ist unlösbar verbunden mit der Erringung der demokratischen Freiheiten in Österreich selbst, mit dem Kampf um die demokratische Republik in Österreich.

Die nationale Frage in Österreich hängt eng zusammen mit den zahlreichen ungelösten nationalen Problemen in Mitteleuropa. Vielleicht schon die kommende demokratische Umwälzung in Österreich und in Deutschland, sicherlich aber ein sozialistisches Mitteleuropa wird zu ihrer endgültigen Lösung imstande sein. In welcher konkreten Form dies geschehen wird, kann heute nicht vorausgesagt werden. Die politischen Tatsachen, die die weitere Entwicklung schaffen wird, werden auch die konkrete Form der Lösung der nationalen Frage in ganz Mitteleuropa und das Verhältnis Österreichs zu Deutschland und den anderen Staaten Mitteleuropas bestimmen.

2. Teil

Die theoretische und historische Untersuchung der nationalen Frage in Österreich zeigt, dass die Scheidung des österreichischen Volkes vom übrigen Deutschland, die in der ganzen Periode seiner kapitalistischen Entwicklung bestand, und das Eigenleben unter besonderen Verhältnissen, ohne dass es unter der Herrschaft einer anderen Nation lebte, seine Entwicklung zu einer besonderen Nation hervorrief. Die Eigenart dieser nationalen Entwicklung besteht aber in jenem historischen Widerstreit zweier nationaler Richtungen, der österreichischen und der deutschen Orientierung, im österreichischen Volk. Dadurch ist die Herausbildung einer eigenen, von der deutschen Nation verschiedenen österreichischen Nation nicht eindeutig das ganze Volk umfassend zu Ende gegangen. Ohne diese Eigenart der nationalen Frage in Österreich zu begreifen, kann man kein richtiges nationales Programm herausarbeiten.

Man kann die nationale Lage der Österreicher auch durch folgenden Vergleich darstellen: Die Saardeutschen - anders als die Österreicher - waren ein Teil der deutschen Nation. Als sie dann 1918 gewaltsam durch die Friedensverträge vom übrigen Deutschland losgerissen wurden, fühlten sie sich weiter als Teil der deutschen Nation. Diese absolut eindeutige nationale Zugehörigkeit bildete unter anderem die objektive Grundlage des Erfolges des Nationalsozialismus bei der Saarabstimmung.

Die deutschen Schweizer - gleich den Österreichern - waren und sind ethnographisch ein deutscher Volksstamm, ihre Sprache ist deutsch, sie grenzen an Deutschland. Aber der Prozess ihrer Entwicklung zu einer eigenen Nation, gegründet auf ihr historisch früh zurückreichendes Leben unter besonderen Verhältnissen, ist eindeutig abgeschlossen. Die deutschen Österreicher stehen, geschichtlich gesehen, sozusagen zwischen diesen beiden Extremen, zwischen den in die deutsche Nation aufgegangenen Saardeutschen und den eine eigene Nation bildenden deutschen Schweizern. Die deutschen Österreicher bildeten zwar auch nie einen Teil der deutschen Nation und haben sich unter anderen Lebensverhältnissen national selbständig entwickelt, aber sie nahmen - anders als die Schweizer - am Kampf um die Einheit der deutschen Nation im 19. Jahrhundert teil. Ihre Entwicklung verlief in engerem Kontakt mit der deutschen Nation als die der Schweizer. Die Entwicklung zur eigenen Nation ist bei ihnen nicht abgeschlossen. Der Sieg des Faschismus in Deutschland, der Kampf um die Unabhängigkeit Österreichs haben in den Mittelpunkt des politischen Kampfes in Österreich die Frage gestellt, in welche Richtung die weitere nationale Entwicklung gehen soll. Sie haben gleichzeitig den Prozess der Entwicklung der österreichischen Nation beschleunigt, wie es in der Entwicklung vieler Nationen beim Kampf um die Unabhängigkeit ihres Landes geschah.

Aus all dem folgt, dass die nationale Frage in Österreich nicht, wie viele glauben, einfach ein Teil der allgemeinen national deutschen Frage ist, wie sie in verschiedenen Teilen Europas eine Rolle spielt. Denn der deutsch-nationalen Strömung in einem Teil des österreichischen Volkes steht die andere historisch entstandene national österreichische Orientierung entgegen. Wir müssen der falschen Auffassung entgegentreten, als ob die nationale Frage in Österreich sich erschöpfe in der Anschlussfrage, als ob die nationale Bewegung identisch sei mit der deutsch orientierten, d.h. heute mit der nationalsozialistischen Bewegung. Nein, der Kampf, der in Österreich in den letzten Jahren um die Unabhängigkeit des Landes ausgefochten wurde und noch weitergehen wird, solange der Hitlerfaschismus in Deutschland an der Macht ist, hat auf beiden Seiten tiefere nationale Wurzeln, die weit in die Geschichte des österreichischen Volkes zurückreichen. Es gab und gibt in Österreich eben zwei nationale Tendenzen. Neben solchen Umständen - wie ökonomische und politische Bindungen verschiedener Gruppen der Bourgeoisie an verschiedene imperialistische Auslandsmächte - ist diese Tatsache die tiefere in den Massen des Volkes selbst liegende Ursache dafür, dass es dem österreichischen Finanzkapital, anders als in national einheitlichen Ländern wie Deutschland oder Italien, bis heute nicht gelang, eine einheitliche faschistische Massenbewegung zu schaffen. Das ist eine weitere Eigenart des politischen Lebens in Österreich.

Und noch eine Frage wird uns klarer, wenn sie in diesem Zusammenhang betrachtet wird, die Frage nämlich, warum die Naziwelle in Österreich, die 1932, 1933 so gewaltig anwuchs, später gebrochen wurde. Ist dies etwa den Bajonetten von Mussolinis Schwarzhemden zu verdanken, die am 25. Juli 1934 drohend am Brenner aufmarschierten, oder dem Eintreten Englands und Frankreichs für Österreichs Unabhängigkeit? Aber es handelt sich nicht darum, dass Hitler Österreich nicht territorial annektieren konnte, es handelt sich darum, dass die Nazibewegung nur einen bestimmten Teil der österreichischen Bevölkerung für sich gewinnen konnte und darüber bis heute faktisch nicht hinauskam. Man konnte sich wohl eine Lage vorstellen, wo zwar die faktische Annexion des österreichischen Territoriums durch Hitler nicht erfolgen konnte, weil es die Auslandsmächte verhinderten, wo aber die geistige, die politische Annexion der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung durch den Nationalsozialismus erfolgt ist. Den Nazis ist dies aber nicht gelungen. Ist dies etwa der Stärke der österreichischen Arbeiterbewegung, ihrer alten sozialistischen Tradition zu verdanken? Dieser Umstand spielt zweifellos eine bedeutende Rolle. Aber auch er erklärt nicht alles. Er spielt eine Rolle, mehr bei der bewussten Vorhut der Arbeiterklasse, weniger aber bei den breiten Massen der Arbeiter und noch weniger bei Halbproletariern, [den Massen] der Kleinbürger und Bauern, die die Nazis nicht erobern konnten. Und vergessen wir nicht: waren die sudetendeutsche Arbeiterschaft oder die Arbeiterschaft der Saar etwa weniger gut organisiert, hatten sie etwa weniger tiefe sozialistische Traditionen als die österreichische Arbeiterschaft? Und doch ist dort der Nationalsozialismus, gestützt auf die andere objektiv gegebene rationale Lage, in die Arbeiterschaft eingedrungen. In Österreich aber gelang es ihm nicht, auch nicht nach dem Feber 1934, als der Hass der Arbeiterschaft gegen die blutige Dollfuß-Diktatur gewaltig anstieg. Was hat also noch bewirkt, dass die Naziwelle in Österreich gebrochen wurde? Eine der tieferen Ursachen dafür ist jedenfalls auch die Tatsache, dass dem deutschen Nationalgefühl in einem Teil der österreichischen Massen, in der Mehrheit des Volkes ein national österreichisches Gefühl, das Gefühl der nationalen Besonderheit gegenüber Deutschland gegenüberstand, das im Streben nach Erhaltung der österreichischen Eigenstaatlichkeit zum Ausdruck kam, ein Gefühl, das da mehr, dort weniger ausgeprägt war, subjektiv vielleicht manchmal garnicht bewusst zum Ausdruck kam, aber objektiv im Volke vorhanden war. Genosse Koplenig hat dies richtig im Juli 1936 auf dem Plenum des Politbüros der KPÖ ausgesprochen: "Umsomehr müssen wir in unserer Agitation die Tatsache hervorheben, dass die Bestrebungen im österreichischen Volke zur Wahrung seiner Eigenstaatlichkeit immer sehr starke waren. Wenn diese Stimmungen in den Volksmassen nicht stark gewesen wären, dann wäre Österreich längst eine Beute des Hitlerfaschismus geworden. Dass Österreich nicht vom Hitlerfaschismus überrannt wurde, ist kein Verdienst von Dollfuß und Schuschnigg; die Hitlerwelle ist am österreichischen Volke gebrochen."

Diese Einstellung der Massen war die objektive Grundlage, auf die sich die reaktionärsten Kreise des österreichischen Finanzkapitals stützen konnten, als sie ihren Konkurrenzkampf gegen den deutschen Faschismus vor den Massen in eine Rettung der österreichischen Unabhängigkeit umgelogen haben und nach der Niederschlagung der Arbeiterklasse ihre Diktatur unter Dollfuß und Schuschnigg aufrichteten. Sie haben die national österreichischen Gefühle der Massen für ihre reaktionären Zwecke missbraucht.

Kann man etwa aus all dem Gesagten schließen, dass die Nazigefahr in Österreich nie über eine bestimmte Grenze ansteigen kann, dass die Nazis nicht in der oder jener Form an die Macht gelangen können? Keineswegs, dies zu glauben wäre eine gefährliche Unterschätzung der Nazigefahr und würde zur Abschwächung, wenn nicht gar Einstellung unseres Kampfes gegen sie führen. Aber aus all dem ergibt sich, dass diese nationale Lage in Österreich für den Vormarsch der Nazis ein objektives, wenn auch nicht unüberwindliches Hindernis ist, für die autoritäre österreichische Diktatur gestern eine Stütze war und heute noch ist und für die revolutionäre Arbeiterklasse eine Stütze sein kann, falls sie eine richtige Politik in der nationalen Frage betreibt.

Bevor wir unsere Stellung zur Frage der Entwicklung der österreichischen Nation darstellen, sei noch ein Einwand prinzipieller Natur behandelt. Man fragt, worin besteht eigentlich jener besondere österreichische nationale Charakter, von dessen Entwicklung ihr sprecht, oder anders ausgedrückt, gibt es denn eine besondere von der deutschen verschiedene österreichische Kulturgemeinschaft? Jawohl, es gibt sie. Wenn wir absehen von den internationalen Elementen aus den verschiedenen modernen Kulturen, die ein untrennbarer Bestandteil des Kulturlebens des österreichischen Volkes wie aller modernen Völker geworden sind, dann finden wir, allgemein betrachtet, zwei Wellen der österreichischen Kultur: erstens das allgemeine deutsche Kulturerbe aus jener Zeit, wo die deutschen Stämme noch nicht zur Nation geeint waren (die Literatur im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vor allem die deutsche Klassik usw.). Darüber hinaus besteht eine besonders enge Verbindung mit der deutschen Kultur - enger als mit anderen Kulturen -, die aus der Sprachgemeinschaft und vorwiegend daraus erfließt, dass ein Teil des österreichischen Volkes diese Verbindung bewusst aufrecht zu erhalten suchte. Es ist dies der deutschnational orientierte Teil des Volkes, besonders ein großer Teil der Intelligenz. Natürlich gibt es Elemente der deutschen Kultur und gegenseitige Befruchtung des geistigen Lebens auch in den meisten anderen modernen Kulturen, so in der französischen, englischen usw. Aber im Falle Österreichs handelt es sich aus den aufgezeigten Gründen um eine besonders enge Verbindung.

Zweitens haben wir die eigene spezifisch österreichische Kultur, die aus den besonderen österreichischen Lebensverhältnissen erfließt und ihrer Verwurzelung im Volke nach stark ins Gewicht fällt. Es gibt auf allen Gebieten der Kunst eine Reihe von Männern, die auf keinem anderen als österreichischem Boden denkbar sind, die in ihrem Schaffen spezifisch österreichische und keine andere Eigenart des nationalen Charakters verkörpern. Man denke z.B. an solche Schriftsteller und Dichter wie Grillparzer, Anastasius Grün, Raimund, Nestroy, Kürnberger, Anzengruber, Rosegger, Schnitzler, Ferdinand Saar, Schönherr, Wildgans, Karl Kraus, Petzold, Stefan Zweig; an solche Musiker wie Haydn, Mozart, Schubert, Strauß, Bruckner; an solche Meister der bildenden Künste wie Makart, Defregger, Egger-Lienz, Waldmüller, Anton Hannak und andere mehr. Eine Analyse ihrer Werke wird darin jene besonderen Züge des nationalen Charakters der Österreicher widergespiegelt finden, von denen auch Engels auf einige hinwies, als er "das lustige, erregbare, der glücklichen kelto-germano-slawischen Rassenmischung mit Vorwiegen des deutschen Elements geschuldete Temperament" der deutschen Österreicher hervorhob (Brief Engels' an Victor Adler vom 11. 11. 1893). Man könnte dem noch eine Reihe von großen österreichischen Männern auf dem Gebiete der Wissenschaften hinzufügen, um zu sehen, dass es eine besondere österreichische Kultur gibt, die - getrennt von der deutschen - einen eigenen Beitrag zur Entwicklung der Kultur der Menschheit geleistet hat.

Diese doppelte Art der Quellen des österreichischen Kulturlebens widerspiegelt die Eigenart, das Zwiespältige der nationalen Entwicklung des österreichischen Volkes, die im Kampf zweier nationaler Tendenzen vor sich ging. Stalin weist in seinem Buche "Marxismus und nationale Frage" daraufhin, dass Engländer und Nordamerikaner trotz gemeinsamer Sprache verschiedene Nationen sind , unter anderem wegen Jener besonderen Geistesart, die sich bei ihnen von Generation zu Generation infolge ungleicher Existenzbedingungen herausgearbeitet hat" . Die ungleichen Existenzbedingungen der Deutschen im Reich und der deutschen Österreicher im Verlauf einiger Generationen, die Verschiedenheit der politischen Kämpfe und des politischen Erlebens, die Verschiedenheit der Entwicklung der Arbeiterbewegung u. a. m. mussten auch eine besondere österreichische Geistesart im Bewusstsein der Massen hervorrufen. Andererseits hat die Sprachgemeinschaft und die deutschnationale Orientierung in Teilen des Volkes den besonderen Einfluss der deutschen Kultur ermöglicht.

Vielleicht wird uns mancher einwenden: ihr sprecht von der österreichischen nationalen Kultur und zählt als Vertreter dieser Kultur u. a. auch reaktionäre Spießer, Verherrlicher der Ausbeutung, der Monarchie und des Klerikalismus auf. Habt ihr nicht vergessen, dass Lenin sagte, "die Losung der nationalen Kultur ist ein bürgerlicher und oft auch ein erzreaktionär klerikaler Betrug" an den Arbeitermassen ("Kritische Notizen zur nationalen Frage", 1913 )? Nein, wir haben dies nicht vergessen! Aber eine Sache ist die Feststellung des Bestehens einer nationalen Kultur und eine andere Sache ist unsere Stellung zu ihr. Man darf diese beiden Dinge nicht durcheinander werfen. Die österreichische Kultur ist, wie die Kultur jedes kapitalistischen Landes, eine Kultur der herrschenden Klasse. Die lange Unterdrückung durch die Habsburger, die starke Machtstellung der Kirche haben ihr besonders viele reaktionäre, klerikale, spießerische Elemente verliehen. Das gefällt uns nicht, aber das darf uns nicht hindern, Tatsachen zu konstatieren. Unsere Feststellung des Bestehens einer besonderen österreichischen Kultur hat nichts zu tun mit dem bürgerlichen österreichischen Nationalismus. Wir kämpfen gegen jene, die unter der Losung der "österreichischen Kultur" das Volk dem Einfluss der finsteren Mächte der Vergangenheit erhalten, der Ausbeutung der Bourgeoisie unterordnen wollen. Wir, als Vertreter des österreichischen Proletariats, nehmen für uns in Anspruch, alles das, was es an demokratischen, fortschrittlichen und sozialistischen Traditionen und Elementen in der österreichischen Kultur gibt, nehmen aber auch - denn wir sind Internationalisten - die fortschrittlichen Elemente der anderen nationalen Kulturen und verwenden das als Rüstzeug im Kampfe gegen die "eigene" nationale Kultur der herrschenden Klassen.

Können wir, die Kommunistische Partei und die revolutionäre Arbeiterklasse, die Entwicklung der österreichischen Nation offen anerkennen und fördern? Wir können dies nicht nur, wir müssen es heute tun und haben es bisher faktisch bereits getan. Der praktische Kampf der Partei und der Arbeiterklasse für die Unabhängigkeit Österreichs hat bereits die national österreichische Orientierung im Volke gefördert. Er musste diese Wirkung haben. Der Sieg des Faschismus in Deutschland hat den Kampf um die nationale Unabhängigkeit in ganz Europa verschärft, er hat auch in Österreich den Unabhängigkeitswillen des Volkes, sein nationales Selbstbewusstsein gestärkt.

Die großen Führer des Proletariats haben uns gelehrt, dass unsere Stellung zur nationalen Frage untergeordnet sein muss den allgemeinen Interessen des proletarischen Befreiungskampfes. Wir können nicht jedwede nationale Entwicklung eines Volkes verteidigen, sondern nur jene Entwicklung, die in der Richtung des allgemeinen historischen Fortschrittes liegt, d.h. den Interessen der allgemein demokratischen Weltbewegung und des internationalen proletarischen Klassenkampfes entspricht. Ist von diesem Gesichtspunkt unser Eintreten für die weitere selbständige Entwicklung des österreichischen Volkes, für die Unabhängigkeit seiner nationalen Entwicklung richtig? Unbedingt richtig. Die Vernichtung der Unabhängigkeit Österreichs, sei es direkt oder indirekt wie in Danzig, wäre ein Schlag nicht nur gegen das österreichische Volk. Sie würde nicht nur unseren Kampf in Österreich um die Wiedereroberung der Demokratie gewaltig erschweren, Not und Terror verzehnfachen. Dieser Erfolg des Hitlerfaschismus würde auch die Gefährdung der Unabhängigkeit der anderen Völker Mitteleuropas und Europas erhöhen, die Kriegsgefahr beschleunigen, würde schließlich das Prestige Hitlers in Deutschland selbst festigen und damit auch den Kampf des deutschen Proletariats, den Kampf der deutschen Demokratie erschweren. An die weitere selbständige Entwicklung des österreichischen Volkes ist nicht nur sein eigenes fortschrittliches Interesse, nicht nur das sozialistische Interesse des österreichischen Proletariats - daran ist heute das Interesse der internationalen Demokratie, des internationalen Proletariats, vor allem selbst des deutschen Proletariats geknüpft.

Vielleicht wird mancher nun sagen: gut, wir kämpfen für die staatliche Selbständigkeit, für die staatliche Unabhängigkeit, nicht aber für die nationale Selbständigkeit Österreichs. Doch ist es ganz falsch, weil ganz formalistisch, diese zwei Begriffe, die inhaltlich aufs engste miteinander verquickt sind, einander gegenüberzustellen. Lenin hat in seiner Broschüre "Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen" (1914) sich gegen alle diejenigen "Marxisten" gewendet, die für die Selbstbestimmung der Nation irgendwelche juristische oder psychologische Definition ausklügeln wollten, anstatt sie vom historisch-ökonomischen Gesichtspunkt der nationalen Bewegungen zu verstehen. Nach einer Analyse der nationalen Bewegungen erklärt Lenin, dass "die Selbstbestimmung der Nationen im marxistischen Programm keine andere Bedeutung haben kann, als: politische Selbstbestimmung, staatliche Selbständigkeit, Errichtung von Nationalstaaten". Und an anderen Stellen sagt Lenin: "Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bedeutet ausschließlich das Recht auf ihre Unabhängigkeit im politischen Sinne" ("Thesen über die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen", 1916 ) oder "Selbstbestimmung der Nation heißt ihre politische Unabhängigkeit" ("Eine Karikatur auf den Marxismus", 1916 ). Lenin hat hier den allgemeinen Fall vor Auge, dass ein Volk, das in einem andersnationalen Staate lebt, seine nationale Selbstbestimmung durch staatliche Loslösung, durch Erringung der politischen Unabhängigkeit verwirklicht. Aber nicht nur der Kampf um die Erringung, auch der Kampf um die Aufrechterhaltung der politischen, d.h. staatlichen Unabhängigkeit ist ein nationaler Kampf. Das bezieht sich auch auf den Sonderfall Österreich. Die deutschen Österreicher haben auf der Grundlage der jahrzehntelangen staatlichen Selbständigkeit eine eigene nationale, von der der deutschen Nation verschiedene Entwicklung durchgemacht. Ihr Kampf um die Aufrechterhaltung der staatlichen Selbständigkeit bedeutet den Kampf um die Erhaltung der nationalen Eigenart, um die Erhaltung der nationalen Unabhängigkeit Österreichs. Er ist ein nationaler Kampf, ein Kampf für die nationale Selbstbestimmung des österreichischen Volkes. Und die Aufgabe des revolutionären Proletariats und seiner Kommunistischen Partei ist es, in diesem Kampfe an der Spitze des österreichischen Volkes zu stehen.

Werden wir nicht durch eine solche Linie zum reaktionär bürgerlichen österreichischen Nationalismus abgleiten? Werden wir nicht den Kampf der Massen gegen die herrschende reaktionäre Diktatur abschwächen? Im Gegenteil, diese Linie in der nationalen Frage gibt uns eine Waffe gegen die Faschisten und Reaktionäre aller Richtungen, insbesondere auch gegen die herrschende Clique. Es ist eine umso schärfere Waffe, da dieser nationale Kampf unlösbar verbunden ist mit unserem Kampf um die demokratischen Freiheiten, um die demokratische Republik in Österreich. Denn nur ein freies Volk kann seine nationale Freiheit verteidigen. Die demokratische Republik wird die beste Garantie für die Erhaltung der Unabhängigkeit des Landes sein.

Diese Linie in der nationalen Frage schärft unsere ideologische Waffe gegen den Hitlerfaschismus, den Hauptfeind des internationalen und des österreichischen Proletariats. Sie ist ein Schlag gegen die These des Nationalsozialismus, die österreichische Frage sei eine innere Angelegenheit der deutschen Nation, Hitler habe nationale Ansprüche auf Österreich. Nein, die Ansprüche Hitlers auf Österreich sind annexionistische Ansprüche, d.h. sie sind keine Geltendmachung, sondern eine imperialistische Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes des österreichischen Volkes, seines Rechtes auf politische und nationale Unabhängigkeit. Und wir müssen klar sehen und aussprechen, dass die Eroberung Österreichs durch Hitler das österreichische Volk nicht nur dem brutalsten politischen System, das die Geschichte kennt, ausliefern, sondern auch seine nationale Unterdrückung durch den deutschen Faschismus bedeuten würde. Nationale Unterdrückung kann es auch dort geben, wo der nationale Unterdrücker dieselbe Sprache spricht. Man denke z.B. an die Unterdrückung Kroatiens durch Serbien. Wie in einem eroberten, national fremden Gebiet würden österreichische Beamte und Angestellte in Massen aus dem Staats- und Verwaltungsapparat (Eisenbahn usw.) hinausfliegen und an ihrer Stelle über das österreichische Volk preußische Nazis gesetzt werden. An Stelle des einen Habichts würden hunderte Habichte über dem Land lagern. Was es an österreichischer Kultur und nationaler Eigenart gibt, würde zertreten werden, der Religionskampf noch wütender als in Deutschland geführt werden. Wahrscheinlich würde auch die österreichische Industrie zum Teil nach Deutschland verlagert, der Steuerdruck in der österreichischen "Provinz" höher als in Deutschland sein und ähnliche wirtschaftliche Unterdrückungsmaßnahmen mehr, wie sie die nationale Unterdrückung eines Volkes charakterisieren. Vor all dem wollen wir das österreichische Volk bewahren. Gleichzeitig aber muss die Partei den national deutschen, national sozialistischen Werktätigen in Österreich das Beispiel der Saar vor Augen führen, muss ihnen beweisen, dass ihre nationalen Gefühle im Interesse der Weltherrschaftspläne des deutschen Imperialismus gegen ihre eigenen Interessen schmählich missbraucht werden, und gegenüber diesen national deutschen Werktätigen müssen wir unsere besonders enge Solidarität mit dem deutschen Volke hervorheben, besonders eng infolge des gemeinsamen Kampfes gegen den gemeinsamen Feind, infolge der Verwandtschaft der Abstammung, der Gemeinschaft der Sprache, der engen Verbindung unserer Kulturen. Die aufgezeigte Linie in der nationalen Frage ist eine scharfe Waffe gegen die reaktionäre österreichische Schuschnigg-Diktatur. Im Interesse ihrer Herrschaft über das österreichische Volk treiben die reaktionären Cliquen um Schuschnigg jeden beliebigen Schacher mit dem nationalen Geschick des Landes. Wir zeigen, dass ihre Politik des Ausgleiches mit dem Nationalsozialismus Verrat an der nationalen Unabhängigkeit des Landes ist, dass sie nicht die Beschützer, sondern die Totengräber dieser Unabhängigkeit sind. Wir machen so die national österreichischen Gefühle in breiten, insbesondere katholischen Volkskreisen zu einer Waffe gegen die herrschende Diktatur. Gleichzeitig bekämpfen wir alle reaktionären Versuche, auf Grund der objektiv gegebenen österreichisch nationalen Eigenart eine chauvinistisch durch und durch verlogene Ideologie des "österreichischen Menschen" zu schaffen, Versuche, die insbesondere in monarchistischen Kreisen geübt werden. Diese reaktionären monarchistischen Professoren wollen den Österreicher als einen Menschen besonderer Art, als einen Deutschen mit besonderen Fähigkeiten darstellen, die ihn dazu vorbestimmen, deutsche Kultur den Völkern des Donauraumes zu übermitteln. Unsere Anerkennung der Entwicklung einer österreichischen Nation hat nichts mit diesen ideologisch verhüllten Träumen und Bestrebungen eines kleinen Imperialismus zu tun, auf dem Wege über die "Kultur" alte, verlorene Positionen im Donauraum wieder zu erobern. Diesem österreichischen Chauvinismus setzen wir entgegen die Propaganda des proletarischen Internationalismus, den solidarischen Kampf des unterdrückten . österreichischen Volkes mit den demokratischen Kräften in den Nachbarstaaten gegen die reaktionären Mächte und Kriegstreiber in Mitteleuropa, gegen die Hitler, Mussolini und Habsburg.

Unsere Linie in der nationalen Frage richtet sich auch gegen jene Leute unter den Habsburgpropagandisten, die den Gedanken einer österreichischen Nation überhaupt ablehnen. "Die Konstruktion eines österreichischen Nationalgefühls wäre Selbstmord an der österreichischen Idee ..., so sinnlos Österreich als nationaler Begriff wäre, so unantastbar ist er als Bannerträger einer friedlichen Kulturgemeinschaft in Mitteleuropa, ja in ganz Europa", schreibt der Monarchist Skarek ("Sturm über Österreich", 30. VIII. 1936). Der Zweck ist durchsichtig. Diese Monarchisten fürchten, Habsburgs Herrschaft über die Nationen nicht zu erreichen, wenn sie Habsburg als "Vertreter" eines Volkes, des österreichischen, repräsentieren. Und wir antworten darauf, Habsburg ist allen Nationen gleich fremd, gleich Feind, es stand als Unterdrücker über allen Nationen, inbegriffen die deutschen Österreicher. Darum "nimmer sei mit Habsburgs Krone Österreichs Geschick vereint".

Und zum Schluss noch eine prinzipielle Frage: die proletarische Revolution löst, wie die Geschichte zeigt, jene Aufgaben, die die bürgerliche Revolution ungelöst ließ. Man könnte nun sagen, die bürgerliche Revolution 1848 hat das revolutionär demokratische Programm der deutschen Einheit, das Marx vertrat, nicht erfüllt. Die kommende Revolution in Österreich wird daher die Aufgabe haben, dieses Programm, d.h. den Zusammenschluss der Österreicher mit der deutschen Nation zu verwirklichen. Insbesondere Otto Bauer vertrat und vertritt diese Lösung der nationalen Frage des österreichischen Volkes immer wieder mit Hinweis auf Marx und glaubt bzw. macht andere glauben, er handle dabei besonders marxistisch. Das Gegenteil ist der Fall.

Erstens, als Engels 1870 die Haltung Wilhelm Liebknechts teilweise kritisierte, schrieb er in einem Brief an Marx in kräftigem Tone: "Überhaupt, a la Liebknecht, die ganze Geschichte seit 1866 rückgängig machen zu wollen, weil sie ihm nicht gefällt, ist Blödsinn" (15. VIII. 1870). Der Gang der Geschichte von 1848 und 1866 und 1918 gefällt uns garnicht. Dass die deutsche Einheit damals nicht verwirklicht wurde, ist zu bedauern. Aber deswegen die Geschichte rückgängig machen zu wollen bzw. die inzwischen vor sich gegangene eigene staatliche, ökonomische, nationale Entwicklung der deutschen Österreicher nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen und, was immer in Zukunft mit Österreich noch geschieht, wie lange und wie hart der Kampf um seine Unabhängigkeit gegen den Hitlerfaschismus auch dauern möge, zu glauben, sie seien und bleiben immer ein Teil der deutschen Nation, wie es Otto Bauer tut, "ist Blödsinn". Engels war bereit, aus einer neuen geschichtlichen Situation neue politische und taktische Schlussfolgerungen zu ziehen. Im Zusammenhang mit einer Debatte über die Losung der polnischen Unabhängigkeit, bei der sich die polnischen Opportunisten auf eine Stellung[nahme] von Marx vor mehreren Jahrzehnten beriefen, schrieb Lenin: "Wenn die S.P.P. (Sozialistische Partei Polens) im Jahre 1896 den in einer anderen Epoche in Geltung gewesenen Marxschen Standpunkt festlegt, so bedeutet das schon ein Ausspielen des Buchstabens des Marxismus gegen den Geist des Marxismus. "

Zweitens, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Nation ist eine allgemein demokratische Forderung, die aber die bürgerliche Gesellschaftsordnung in der Regel, insbesondere im Zeitalter des Imperialismus, mit Füßen tritt. Die proletarische Revolution löst hier Aufgaben, die die bürgerliche ungelöst ließ, das beweist schlagend die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes für Dutzende [von] Nationen durch die proletarische Revolution in Sowjetrußland. Das bezieht sich aber nur auf das allgemeine Prinzip des Rechtes der Nation auf Selbstbestimmung, nicht aber auf die konkrete Form, in der die Nation ihre Selbstbestimmung verwirklicht. 1848 schlug Marx als konkrete Form der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes in der deutschen nationalen Frage den Zusammenschluss der deutschen Österreicher mit den übrigen deutschen Stämmen, die Bildung der großdeutschen Republik vor. Zweifellos wird die sozialistische Umwälzung in Mitteleuropa das Selbstbestimmungsrecht des österreichischen Volkes wie der übrigen Völker Mitteleuropas verwirklichen. Kann man aber ernstlich behaupten, dass dies in derselben Form geschehen wird, wie es die Geschichte 1848 erforderte? Nein, denn schon zwischen 1848 und heute liegt fast ein Jahrhundert kapitalistischer Entwicklung in Österreich, ein Zeitraum, in dem sich in nationaler Beziehung etwas Neues herausgebildet hat. Und die weitere Entwicklung des Kampfes gegen den Nationalsozialismus, des Kampfes um die Unabhängigkeit Österreichs, wird in der nationalen Entwicklung Österreichs auch nicht spurlos vorübergehen. Unter solchen Umständen, den 1848 in einer ganz anderen Epoche in Geltung gewesenen Marxschen Standpunkt zu zitieren und [zu] glauben, damit sei alles erledigt, ist in der Tat ein Ausspielen des Buchstabens des Marxismus gegen den Geist des Marxismus. Schon im Jahre 1916 wies Lenin gegenüber Rosa Luxemburg darauf hin, dass das national-deutsche Programm vom Jahre 1848 "veraltet" sei und die Losung der großdeutschen Republik falsch, weil sie im Zeitalter des Imperialismus eine andere, eben eine imperialistische Bedeutung habe. Wir können hier nicht ausführlich darauf eingehen, warum dennoch unter den Umständen, unter denen die proletarische Revolution 1918 vor sich ging, den tragischen Umständen, dass an der Spitze des Proletariats eine durch und durch opportunistische Partei stand, die durch eine 20jährige reformistische Nationalitäten-Politik das werktätige Volk der verschiedenen Nationen spaltete und gegeneinander hetzte, die Losung des Anschlusses an Deutschland dennoch richtig war. Heute sich in Spekulationen darüber zu ergehen, in welcher Form die kommende revolutionäre Umwälzung das Selbstbestimmungsrecht der Nationen verwirklichen wird, ist müßig. Denn wir können heute nicht voraussehen, welchen Gang die Ereignisse nehmen werden, in welchem Lande die Revolution zuerst beginnt, wie lange sie sich in diesem Lande allein wird halten müssen usw., usw. Halten wir darum jene Momente fest, die schon heute sicher erscheinen. Sicher ist, dass die nationale Frage in Österreich durch zahlreiche historische und aktuelle Momente eng zusammenhängt mit den verschiedenen anderen ungelösten nationalen Problemen in Mitteleuropa. Sicher ist, dass je länger das faschistische Regime in Deutschland an der Macht bleibt, je länger und schwerer der Abwehrkampf des österreichischen Volkes um seine Unabhängigkeit dauert, umso stärker die nationale Besonderheit der österreichischen Nation ausgeprägt wird. Sicher ist schließlich, dass heute nicht nur die Unabhängigkeit Österreichs, sondern zahlreicher anderer Nationen im Donauraum durch den deutschen Imperialismus gefährdet ist und diese Lage auf die Zusammenarbeit der Proletarier, auf die Zusammenarbeit aller demokratischen Kräfte dieser Völker im Donauraume hindrängt, deren nationale Unabhängigkeit von Hitler oder Mussolini gefährdet ist. Der Zusammenschluss der Friedenskräfte dieser Länder, da vereinzelter Gruppen und Parteien, dort ganzer Staaten, wie z.B. der Tschechoslowakei, und die Ausrichtung dieser Kräfte auf die große internationale Friedensfront ist der einzige Weg zur Sicherung von Frieden, Freiheit und Unabhängigkeit. Diese Zusammenarbeit zu propagieren und in die Wege zu leiten wäre Aufgabe der Kommunistischen Parteien dieser Länder. Und noch eines: wenn wir die Entwicklung der österreichischen Nation anerkennen und sie fördern, so bedeutet dies keineswegs, dass in Zukunft in einer geänderten historischen Situation ein freiwilliger Zusammenschluss der Österreicher und der Deutschen ausgeschlossen ist. Absolut nicht, ein solcher Zusammenschluss bei Anerkennung der bis dahin entwickelten nationalen Eigenart des österreichischen Volkes ist umsomehr möglich, als ja die nationale Verwandtschaft, die gemeinsame Sprache diese beiden Völker besonders nahe bringt. Es wäre jedoch sinnlos, jetzt darüber zu spekulieren, in welcher Form, in welchem größeren europäischen Rahmen, unter welchem politischen System eine solche Zusammenarbeit erfolgen wird.

Der Kampf um die nationale Selbstbestimmung des österreichischen Volkes ist ein untrennbarer Bestandteil des allgemeinen demokratischen Kampfplanes der Partei. Er wird es der Partei und der Arbeiterklasse erleichtern, alle demokratischen Kräfte des Landes um sich zu scharen und die mächtige österreichische Volksfront zu schaffen, die die demokratische Republik erobern, die Unabhängigkeit des Landes sichern, dem Volke Brot und Freiheit bringen wird.