STALINGRAD:
Sag, wo sind sie geblieben?

OTTO PENZ geriet in Stalingrad als Oberleutnant einer Aufklärungsstaffel der Luftwaffe in Gefangenschaft und schwebte im Lager wegen Flecktyphus zwischen Leben und Tod. Im folgenden Artikel geht er der Frage nach, weshalb im Kessel von Stalingrad nur wenige Wehrmachtsangehörige in Gefangenschaft geraten und noch viel weniger aus ihr heimgekehrt sind.

Man kann über den 'Mythos einer Schlacht' (wie Augstein im SPIEGEL) sinnieren. Man kann militärisch-strategische Überlegungen anstellen, ob es sinnvoll war, eine ganze Armee zu verheizen. Man kann eine endlose Klage über die Opfer im Kessel und den Schmerz der Betroffenen in der Heimat anstimmen. Oder man kann dafür sorgen, dass die in Stalingrad zugrundegegangenen Soldaten endlich bestattet werden. Aber man kann sich auch fragen, ob dieses Massensterben wirklich unvermeidlich war: Weshalb sind von den 320.000 im Kessel eingeschlossenen Soldaten, darunter rund 50.000 Österreicher, nur 90.000 in Kriegsgefangenschaft gegangen? Weshalb ist nur ein Bruchteil zurückgekehrt?

Die Generaloffensive der Roten Armee bei Stalingrad startete bei beginnenden winterlichen Verhältnissen am 19.11.1942. Bereits vier Tage später war die Einkreisung der 6. Armee unter Generaloberst Paulus und Teilen der 4. Panzerarmee abgeschlossen. Versuche, den Kessel zu durchbrechen, wurden von der Obersten Heeresleitung abgelehnt. Ein Entsatz von außen scheiterte. Versprechungen über Hilfe von außen hielten die Moral der Truppe im Kessel lange Zeit aufrecht. Die Luftwaffe konnte aber ihre Zusage nicht einhalten, die Eingeschlossenen ausreichend zu versorgen. Die unzureichende Verpflegung, der mangelnde Nachschub an Munition und Betriebsstoff, die winterliche Kälte und die ständigen Gefechte vergrößerten von Tag zu Tag die Ausfälle.

Tod durch Frost

Bereits um die Weihnachtszeit mehrten sich Meldungen über Soldaten, die Erfrierungen erlegen waren. Anfang des Jahres 1943 war der Nachschub bereits dramatisch schlecht. Die Brotration fiel auf 50 bis 100 Gramm. Die Verpflegungsreserven langten am 4.1. bei Brot noch für einen Tag, bei Gemüse für zwei Tage, bei Fleisch für sechs Tage, bei Abendkost für vier Tage, bei Brotaufstrich und Getränken waren sie aufgebraucht. Zwar wurde die Versorgung aus der Luft fortgesetzt, jedoch unzureichend. Erstens, weil die Nachschubeinheiten durch die rote Armee immer weiter nach Westen abgedrängt wurden, zweitens nahm die Zahl der Flugzeuge ständig ab, die den Kessel erreichten.

Das blieb nicht ohne Wirkung auf die ohne Einladung in der Sowjetunion anwesenden deutschen Truppen. Ausfälle wegen Erfrierungen und Erschöpfung häuften sich, Einlieferungen in Sanitätseinrichtungen und Flüge aus dem Kessel erfolgten nur noch in Ausnahmefällen.

Im Oberkommando gab es keinen Zweifel mehr, dass das Schicksal der Armee besiegelt war. Die Leitung der sowjetischen Einheiten, die den Einschließungsring bildeten, forderte über Funk Paulus zur Kapitulation auf. Für den Fall der Ablehnung wurde die Vernichtung der eingeschlossenen Truppen angekündigt. Versuche sowjetischer Parlamentäre, die deutsche Front zu erreichen, wurden durch Schüsse zurückgewiesen. Paulus lehnte die Kapitulation ab. In einem Befehl wurden die Soldaten vor den Schrecken der Gefangenschaft gewarnt und aufgefordert, Parlamentäre 'durch Feuer zu vertreiben'. Paulus wagte es nicht, sich Hitlers Aufforderung zu widersprechen, bis zur letzten Patrone zu kämpfen.

Das Kapitulationsangebot

Das sowjetischen Kapitulationsangebot an Paulus wies auf die aussichtslose Lage der deutschen Truppen hin und schlug zur Vermeidung unnützen Blutvergießens folgende Bedingungen vor:
1. Alle eingekesselten Truppen haben den Widerstand einzustellen.
2. Alle Wehrmachtsangehörigen haben sich organisiert zu ergeben. Alle Waffen, die gesamte technische Ausrüstung und das Heeresgut sind in unbeschädigtem Zustand zu übergeben. Wir garantieren allen Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften, die den Widerstand aufgeben, Leben und Sicherheit sowie bei Kriegsende die Rückkehr nach Deutschland oder (..) in ein beliebiges anderes Land. (..)
3. Den Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften, die sich gefangengeben, wird die normale Verpflegung verabreicht. Allen Verwundeten, Kranken und Frostbeschädigten wird ärztliche Hilfe zuteil."

Die Großoffensive, die am 10.1. um 6h begann, hatte verheerende Folgen. Viele Truppenteile mussten die für den Winter vorbereiteten Bunkerquartiere verlassen. Der Zentralflugplatz des Kessels musste am 16.1. aufgegeben werden. Ein Strom halbverhungerter und verwunderter Landser bewegte sich durch die Eiswüste in Richtung Stalingrad, um in einer der Ruinen Zuflucht zu suchen. Kümmerlicher Verpflegungsnachschub kam über Proviantbomben, aus denen sich versorgen konnte, wer in der Lage war, an die Bomben heranzukommen.

Kein Brot für Verwundete

Grauenhaft waren die Zustände in der Stadt Stalingrad selbst, wo 30 bis 40.000 Verwundete, Frostkranke, Halbverhungerte unversorgt in den Ruinen lagen oder verzweifelt umherirrten. Einen kaum noch zu überbietenden Höhepunkt in der Versorgungskrise bildete die Meldung, dass ab 28.1. für Verwundete und Kranke keine Verpflegung ausgegeben werde, damit Kämpfer erhalten bleiben. Das veranlasste einzelne Kommandanten, ihre Soldaten als 'Kämpfer' einzusetzen, um die Proviantierung zu sichern.

Am 2. Februar stellten die letzten noch Widerstand leisteten Einheiten ihre Kampftätigkeit ein. Die Stalingrad-Armee löste sich in einen endlosen Zug ausgemergelter, ausgehungerter, verwundeter, frostkranker, mit Flecktyphus, Ruhr und anderen Krankheiten behafteter Soldaten auf, der in Kriegsgefangenschaft ging. Ein Großteil erlag entweder den Strapazen des Marsches oder den Fleckfieberepidemien in den Lagern. Wäre der sowjetischen Kapitulationsaufforderung zu einem Zeitpunkt nachgekommen worden, in dem die physischen und psychischen Verwüstungen der Eingeschlossenen noch nicht so weit fortgeschritten waren, hätte der Übergang in die Gefangenschaft nur einen Bruchteil der Opfer gekostet. Die Armeeführung mit General Paulus an der Spitze hatte es in der Hand, der ehrenvollen Kapitulationsaufforderung entgegen Hitlers Weisung nachzukommen. Aber dazu fehlte diesen 'Helden' der Mut.

(Erstveröffentlichung zum 50. Jahrestag des Endes der Schlacht um Stalingrad 1993)