Eduard Gugenberger

Die Welt als Verschwörung

Anmerkung zu den Protokollen der Weisen von Zion

Juden als Verschwörer

Dass Juden sich gegen die Christenheit verschworen hätten, diese Idee ist fast so alt wie das Christentum selbst. Immer wieder wurden die Angehörigen des ursprünglich "auserwählten", später angeblich "gefallenen Gottesvolks" als "geheimnisvolle, mit unheimlichen Kräften ausgestattete Wesen" beschrieben und - ab dem 12. Jahrhundert urkundlich belegt - des Mordes an Christenkindern verdächtigt. Man beschuldigte sie fernerhin, dem Teufel zu huldigen und "Meister der Schwarzen Magie" zu sein. Von dieser Behauptung ausgehend war es nur noch ein kleiner Schritt, ihnen auch noch eine geheime Weltverschwörung zu unterstellen. Als erster tat dies der Dichter Philostratos, der um 200 u.Z. behauptete, die Juden hätten sich "nicht nur gegen die Römer, sondern gegen die gesamte Menschheit erhoben." (Hannes Stein: Hoch die Weisen von Zion!, in: Kursbuch Nr. 124: Verschwörungstheorien, Berlin, Juni 1996, Seite 36) Nach ihm waren es diverse "Kirchenväter" und mittelalterliche Theologen, die dem (gegen Gott und die Welt verschworenen) Antichrist ein jüdisches Gesicht verliehen und im jüdischen Volk seine Gefolgsleute vermuteten.

Der moderne Mythos von der jüdischen Weltverschwörung hat viele der alten dämonologischen Versatzstücke übernommen. Seine eigentlichen Ursprünge aber sind in jenen sozialen Spannungen zu suchen, "die aufkamen, als Europa mit der Französischen Revolution und dem Anbruch des 19. Jahrhunderts in ein Zeitalter stürmischer, tiefgreifender Wandlungen eintrat." (Norman Cohn - Die Protokolle der Weisen von Zion. Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung, Köln/Berlin 1969, Seite 29)

1797/98 berichteten der französische Geistliche Abbé Barruel und der schottische Mathematiker John Robison über eine geheime Gesellschaft, die durch beständige untergründige Verschwörung die Welt beherrschte. Templer, Freimaurer, Jakobiner und Illuminaten wären ihr Werkzeuge - nicht zuletzt in besonderer Weise aber auch "die jüdische Sekte", wie Hauptmann Jean-Baptiste Simonini in einem Brief an Barruel aus dem Jahre 1806 anmerkte (w.o., Seite 34). In diesem Brief findet sich erstmals schriftlich belegt die - offensichtlich im Volk schon seit längerem verbreitete - Idee einer geheimen jüdischen Weltregierung.

Als Napoleon Bonaparte im Oktober 1806 in Paris einen "Grand Sanhedrin", eine Versammlung prominenter jüdischer Gelehrter und Rabbiner, zusammenrief, sahen viele, die es "immer schon wussten", ihre Befürchtungen bestätigt. Französische Emigrantenkreise in London riefen daraufhin die Menschheit auf, sich dem als "Messias der Juden" in Erscheinung tretenden "Antichristen" und seiner geheimen, in Paris installierten Weltregierung entgegenzustellen. Im 1820 abgefassten Testament Barruels finden sich bereits alle Elemente, die bis heute als Indizien einer jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung gelten, so u.a. die Idee eines geheimen obersten Rates, der "keine feste Residenz" hatte, sondern im Hintergrund stets da wirkte, "wo sich die Staatsmänner der Großmächte zu Kongressen versammelten." (w.o., Seite 39)

Einen erstaunlichen Auftrieb erhielten die nach Barruels Ableben in Mittel- und Westeuropa weitertradierten Verschwörungstheorien durch ein Kapitel in Benjamin Disraelis 1844 publizierten Roman "Coningsby". Der britische Staatsmann schilderte darin eine Rundreise des reichen Juden Sidonia, der feststellte, dass überall an den wirklichen, oft verborgenen Schalthebeln der Macht Glaubensbrüder saßen. "Sie sehen also", ließ er diesen Juden zu Coningsby sagen, "die Welt wird von ganz anderen Leuten regiert, als diejenigen glauben, die nicht hinter die Kulissen blicken." (w.o. Seite 41) Dieser Satz wurde seither immer wieder von antisemitischen Autoren aufgegriffen und in ihre Theorien eingebaut. Und drumherum konstruierte man nach und nach die erstaunlichsten Weltverschwörungsmodelle, so sollen z. B., einem Artikel in den Münchner "Historisch-politischen Blättern" aus dem Jahre 1862 zufolge, die hinter den Kulissen wirkenden "unbekannten Oberen" in London und Paris ihren Sitz haben und sich zwecks Absprache untereinander einmal pro Jahr im Leipzig treffen (w.o.). Alle diese Vermutungen hatten freilich einen Haken - mit Ausnahme der Tagung des "Grand Sanhedrin" gab es keine wirklichen Belege und vor allem keine eindeutigen Aussagen weltverschworener Juden selbst. Bei der nach 1860 zunehmenden Dichte der Verdächtigungen aber konnte es nicht ausbleiben, dass irgendwann irgendwo derartige "Dokumente" auftauchen würden.

Der "oberste Rat" der jüdischen Weltverschwörung

Im Jahr 1864 veröffentlichte der französische Schriftsteller Mairice Joly in Brüssel ein Buch mit den Titel "Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu, ou la politique de Machiavel dix-neuvième siècle, par un contemprain" (deutsch zuletzt veröffentlicht 1990 in der "Anderen Bibliothek" unter dem Titel "Ein Streit in der Hölle. Gespräche zwischen Machiavelle und Montesquieu über Macht und Recht").

Der Autor zog darin in satirischer Weise gegen das politische System seiner Zeit zu Felde - mit unverkennbaren Anklängen an die despotische Herrschaft Napoleons III. Er mischte dabei die Mechanismen des Machterhalts mit den gängigen Weltverschwörungstheorien und titulierte sich selbst einleitend als einen der mehr oder weniger im Dunklen bleibenden Verschwörer, die "sich zum Kampfe für das Gute vereinigt haben." (w.o. Seite 6)

Monesquieu (Stein, Seite 37) vertrat in dem Dialog den Standpunkt des Verfassers, dass "eine Tyrannis nicht mehr zeitgemäß sei"; Machiavelli hingegen verfocht die Meinung, dass "nur eine allumfassende totalitäre Herrschaft die Menschheit retten könnte."

Dieses liberale Pamphlet erschien anonym in einem obskuren Verlag und wurde prompt verboten, der Autor inhaftiert, das Buch geriet weit gehend in Vergessenheit. Bis es zu Ende des 19.Jahrhunderts antisemitische Weltverschwörungstheoretiker entdeckten und für eigene Zwecke umzuschreiben begannen.

Zwischenzeitlich stapelte sich freilich auch anderes Material auf. 1868 veröffentlichte der preußische Staatsbeamte Hermann Goedsche unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe eine fiktive "Rede des Rabbiners", die angeblich auf einer geheimen nächtlichen Versammlung zu mitternächtlichen Stunde auf einem Friedhof zur Zeit des Laubhüttenfestes gehalten wurde. In dieser Rede wurden die Juden dazu aufgerufen, den Staat zu unterwandern, Justiz, Unterrichtswesen, die Wissenschaften, Künste und freien Berufe unter ihre Kontrolle zu bringen und so "Glück, Reichtum und Macht" an sich zu reißen (Sir John Retcliffe: Biarritz. Erste Abtheilung: Gaeta-Warschau-Düppel, Band 1, Berlin 1868, S. 141ff).

Goedsches "Rede des Rabbiners" war als Antwort auf die Teilemanzipation der Juden in vielen Ländern Europas konzipiert und fand - aus dem Gesamtwerk herausgelöst - erstaunliche Verbreitung. 1872 erschien sie in Sankt Petersburg als Flugschrift, 1876 in Moskau unter dem Titel "Auf dem Judenfriedhof im tschechischen Prag (Die Juden Herren der Welt)". Im Juli 1881 streute die Pariser Zeitschrift "Le Contemporain" die Geschichte als im Rahmen einer geheimen Versammlung gehaltene "Rede des Großrabbiners John Readclif" unter die Leute. 1887 nahm der gefürchtete Antisemit und spätere Ariosoph Theodor Fritsch die Rede in seinen "Katechismus für antisemitische Agitatoren" auf, 1893 druckten sie die "Deutsch-sozialen Blätter" in Wien ab. Auch in Prag wurde der Text publiziert, als "Rede eines Rabbiners über die Gojim", 1903 verteilten antisemitische Aktivisten die "Rede des Rabbiners" als Flugblatt in Russland (Cohn, Seite 46ff). Zu jener Zeit aber waren schon andere Kräfte am Werk, denen dieser Text noch viel zu wenig weit ging.

Ebendiese Kräfte hatten sich bereits mehrfach sehr vehement zu Wort gemeldet und mit unterschiedlichsten Argumenten die jüdisch(-freimauererisch)e Weltverschwörung angeprangert. Immer wieder war dabei vom Satan die Rede, der sich des jüdischen Volkes und der Freimaurer bediente, um dem angeblich Guten in der Welt den Garaus zu machen. So zum Beispiel bei Gougenot des Mousseaux, der in einer 1869 erschienenen Schrift mit dem Titel "Le juif, le judaïsme et la judaïsation des peuples chretiens" vermutete, der Antichrist werde sich alsbald aus den Kreisen der Juden heraus erheben und mit seinem Volk und den Freimaurern als Kämpfer für seine Sache die Welt in einen großen Krieg hineinziehen. Ähnlich argumentierte Abbé Chabauty in einem 1881 erschienenen Monsterwerk, dem im darauffolgenden Jahr eine Schrift namens "Les Juifs nos maîtres" beigestellt wurde. In dieser findet sich eine angebliche Botschaft der "Juden aus Konstantinopel", die deutlich an Jolys "Dialogue" erinnert und als deren Schlussfolgerung der Autor alle Staatsmänner von Bismarck bis zu den "Souveränen Amerikas" als Werkzeug der jüdischen Weltverschwörung deklariert (w.o. Seite 46).

Ein gewisser Major Osman Bey Kibrizli Sade behauptete in einer 1875 publizierten Hetzschrift über die "Eroberung der Welt durch die Juden", bereits 1840 hätte in Krakau eine "Ratsversammlung der Juden" stattgefunden und lieferte damit den Rahmen für die "Protokolle". Als aktuelle Drahtzieherorganisation der Verschwörung machte er die 1860 in Paris gegründete gemeinnützige "Alliance Israélite Universelle" namhaft (Osman Bey: Die Eroberung der Welt durch die Juden, Wiesbaden 1875, Seite 48ff; - vgl. hierzu: Walter Laqueur: Der Schoß ist fruchtbar noch. Der militante Nationalismus der russischen Rechten, München 1993, Seite 60, sowie N. Cohn a.a.O., Seite 75f).

Noch weitaus perfider ging Thomas Frey mit der Thematik in seinem 1887 erstveröffentlichten "Antisemiten-Catechismus" um. Er beschrieb eine ganze Reihe angeblicher jüdischer Geheimgesellschaften, die im Verborgenen wirkten und sich nur ungern öffentlich zeigten. Freys Werk gehörte im Dritten Reich zum obligatorischen Schulunterricht.

Die Protokolle der Weisen von Zion

Dass aus all den genannten Vesatzstücken schlussendlich die "Protokolle der Weisen von Zion" entstehen und in großem Umfang verbreitet werden konnten, liegt in der spezifischen Situation Russlands begründet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte rund ein Drittel des so genannten "Weltjudentums" im Russischen Reich, das zu jener Zeit zugleich von immer heftigeren revolutionären Unruhen erschüttert wurde. Die zaristische Geheimpolizei Ochrana terrorisierte die Bevölkerung und versuchte deren Zorn von den eigentlichen Schuldigen an der im Lande herrschenden Misere abzulenken. Das Judentum als Sündenbock war ihnen da gerade recht, und so verwundert es nicht, dass ausgerechnet ein russischer Geheimagent zum Paten der "Protokolle" werden sollte.

Pjotr Iwanowitsch Ratschkowski (auch als "Rackovskij" transskribiert) war ursprünglich ein "linker Revoluzzer", der gefangengenommen und in der Haft vor die Wahl gestellt wurde, entweder draufzugehen oder mitzumachen. Er entschied sich für letzteres, wurde 1881 Mitglied der rechtsextremen Organisation "Heilige Druschina" und 1883 Adjutant der Sicherheitspolizei von Sankt Petersburg. Im Jahr darauf schickte man ihn nach Paris, wo er fast zwei Jahrzehnte lang "sämtliche geheimpolizeilichen Operationen außerhalb Russlands" betreute. Ratschkowski war oft in esoterischen Kreisen anzutreffen und scheint dort in seiner antisemitischen Grundhaltung noch bestärkt worden zu sein. 1891 entwickelte er als nunmehriger Auslandschef der Ochrana erstmals den Plan, durch eine Kampagne gegen die russischen Juden, ein Ventil für die im Volk brodelnden revolutionären Umtriebe zu schaffen. Im folgenden Jahr veröffentliche er in Paris unter dem Namen Jehan Préval ein Pamphlet mit dem Titel "Anarchie et Nihilisme". Dieser Rohentwurf der Protokolle gipfelte in der Forderung, es sei "unverzüglich eine französisch-russische Liga zum Kampf gegen die geheimnisvolle, okkulte und unverantwortliche Macht der Juden zu schaffen." (wo.o. Seite 102f). Und Ratschkowski bemühte sich tatsächlich um die Schaffung einer solchen Liga, Dass ihm dies nicht nur nicht gelang, sondern im Jahr 1902 sogar zu seiner Abberufung aus Paris führte, verstärkte seinen Judenhaß nur noch mehr.

Ratschkowski blieb in der Folgezeit zwar weiterhin in zaristischen Diensten, bekleidete allerdings nur noch die untergeordnete Position eines Vizedirektors des Moskauer Polizeibezirks, die ihm Zeit und Gelegenheit für Dokumentenfälschungen bot. Ab 1903 verbreitete er eine ganze Reihe von Hetzschriften gegen die Juden, aber keine sollte sich als so wirkungsvoll erweisen, wie die "Protokolle der Weisen von Zion".

Deren Entstehung ist freilich noch nicht so einfach nachzuvollziehen. Rund 40% des Textes stammen zum Teil wortwörtlich aus Jolys "Dialog aux enfers" und wurden vermutlich um 1894 aus diesem Buch abgeschrieben. Jedenfalls fand man in der Pariser Nationalbibliothek ein Exemplar mit Anstreichungen, die ziemlich genau mit diesen Textstellen übereinstimmen. Die auf Jolys Text basierenden Passagen stellte vermutlich ein Elie de Cyon, selbst konvertierter Jude und auch in andere politische Intrigen verstrickte Persönlichkeit, zusammen. Wer den Text dann weiter redigierte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, 1895 besaß die Sankt Petersburger Diplomatentochter Juliana Dmitrijewna Glinka diese Ur-Protokolle und gab sie an Standesgenossen weiter. Ebendort wurden sie von Sergej Nilus entdeckt, der sie in sein eigenes Werk einfügte und mit Kommentaren versah. Spätestens 1897 befand sich der Urtext auch in den Händen von Ratschkowski, im selben Jahr erschien eine erste provisorische Ausgabe, bewerkstelligt durch Filip Petrowitsch Stepanow, dem Prokurator des Geistlichen Synods von Moskau, zugleich Kammerherr und Staatsrat.

Eine auch geheimpolizeilich genehmigte Fassung der "Protokolle" wurde schließlich im Jahre 1903 von Ratschkowski zur Veröffentlichung an die antisemitische Zeitschrift "Snamja" weitergereicht und von P.A. Kruschewan veröffentlicht. Von Ratschkowski wurde das Machwerk damals als "Sitzungsberichte des Weltbundes der Freimaurer und Weisen von Zion" provisorisch betitelt, Kruschewan formulierte um in "Programm für die Welteroberung durch die Juden". Im Dezember 1905 wurde der Text von dem Offizier G.W. Butmi als Broschüre mit dem Titel "Die Wurzel unserer Übel" herausgegeben, Untertitel: "Wo die Wurzel der gegenwärtigen Unordnung in Europa und insbesondere in Russland liegt. Auszüge aus älteren und neueren Protokollen des Weltbundes der Freimaurer". Die Neuauflage von 1906 wurde betitelt: "Die Feinde des Menschengeschlechts. Protokolle aus den Geheimarchiven der Zentralkanzlei von Zion".

In den nunmehr einer breiten Öffentlichkeit zugänglichen "Protokollen" zeigten sich die angeblichen "Weisen von Zion" als brutale Machtstrategen und beinharte Elitaristen. Zur Durchsetzung des Weltherrschaftsplanes wolle man die "Macht des Geldes" einsetzen, würde aber selbst vor dem Einsatz der furchtbarsten Waffen nicht zurückschrecken. (Laqueur, Seite 61).

Fazit des angeblichen jüdischen Weisenrat: "Unsere Herrschaft wird glorreich sein, denn sie wird mächtig sein¸ sie wird leiten und führen und nicht hilflos Parteigrößen nachlaufen. Vor dem Glorienschein unserer Macht wird das Volk in die Knie sinken und in scheuer Ehrfurcht zu ihr aufblicken. Wahres Herrschertum begibt sich keines einzigen Rechtes, auch nicht des göttlichen. Niemand wird es wagen, unsere Herrschaft anzutasten und unserer Macht entgegenzutreten." (Die Protokolle der Weisen von Zion. Das Welteroberungsprogramm der Juden. Textlich richtiggstellt und mit einer Einführung versehen von einem Kreis Wissender, 2. Auflage, Wien 1925).

Den eigentlichen Durchbruch erreichten die "Protokolle" aber erst durch Sergej Nilus' 1905 erstveröffentlichtes Werk "Velikoe v Malom", zu deutsch "Das Große im Kleinen", Untertitel: "Der Antichrist als nahe politische Möglichkeit". Der 1862 geborene Nilus war an sich ein hochgebildeter Gutsbesitzer und Dichter, der viel in der Welt herumgekommen war und zahlreiche Sprachen beherrschte. Nach und nach entwickelte er sich aber zum bedingungslosen Verfechter der zaristischen Autokratie. "Er fühlte sich als Mystiker und vom Himmel gesandter Verteidiger des Heiligen Russland. Die moderne Zivilisation hatte er von jeher abgelehnt, jetzt sah er in ihr eine Verschwörung der Mächte der Finsternis." (Cohn Seite 113). Und ebendiese sah er im Judentum, dessen Bekämpfung ihm zu einem religiösen Anliegen wurde, personifiziert. Dass er bisweilen an der Echtheit der vom ihm publizierten "Protokolle" zweifelte, änderte nichts an seinem Glauben an die jüdische Weltverschwörung. Ganz im Gegenteil, er zog sogar als "Streiter Gottes" gegen die Juden durch das Land, predigte für den Kampf gegen sie und warnte überall die Menschen vor der Heraufkunft des Antichrist. Die entsprechenden Passagen aus seinem Buch wurden von antisemitischen politischen Kräften schon vor der Veröffentlichung publik gemacht. Die Moskauer Metropolit veranlasste gar ihre Verlesung in allen Kirchen der Stadt. Schlussendlich wurden die Protokolle auch von weit rechts stehenden Zeitschriften wie "Moskowije Wedomosti" in aller Länge abgedruckt. Damit begann eine Wirkungsgeschichte, wie sie sonst kaum einem Druckwerk widerfahren ist.

Die mörderische Spur der Protokolle

Bei den Schwarzen Hundertschaften, jenen Todesschwadronen, die die jüdische Minderheit terrorisierten, wurden die "Protokolle" ab 1905 wie eine Bibel herumgereicht und zur Legitimation des Völkermords zitiert. Staat und Kirche unterstützten diese Schlägertrupps reichlich, der Zar selbst versuchte 1906, angeregt durch die Lektüre der "Protokolle", eine Allianz Russlands mit Deutschland und dem Vatikan gegen die "Alliance Israélite Universelle" zu Wege zu bringen. Um 1910 aber verschwand das Machwerk wieder von der politischen Bühne, wurde aber zweifellos weiterhin unter der Hand viel herumgereicht.

Im Bürgerkrieg von 1917 tauchten die "Sionskie Protokoly" als vielfach aufgelegtes antibolschewistisches Pamphlet bei den Weißgardisten auf. A. Rodionow lieferte dazu einen Kommentar, in dem es u.a. hieß: "Die Protokolle sind ein sorgfältig bis ins einzelne ausgearbeitetes Programm für die Eroberung der Welt durch die Juden." Dieses Programm ist "umso bedeutsamer, als es die Mittel enthüllt, welche die Feinde des Christentums benutzen, um uns (die russischen Christen und Weißgardisten) zu unterjochen. Nur wenn wir lernen, diese Mittel zu erkennen, werden wir imstande sein, die Feinde Christi und der christlichen Zivilisation erfolgreich zu bekämpfen." (Cohn, Seite 151).

Zwischen 1918 und 1920 wurden, motiviert durch die "Protokolle" und weitere, ähnliche Fälschungen rund 100.000 russische Juden massakriert.

1917 gelangten die "Protokolle" durch russische Exilanten nach Westeuropa, wo sie auf einen höchst fruchtbaren antisemitischen Boden fielen. Im deutschsprachigen Raum wurden sie von deutschnationalen Aktivisten, Germanentümlern, Ariosophen und auch anderen Esoterikern begeistert aufgenommen. Zu ihrer Verbreitung beigetragen haben hier vor allem zwei Fanatiker: Pjotr Nikolajewitsch Schabelski-Bork und Fjodor Wiktorowitsch Winberg. Im von ihnen ab 1919 veröffentlichten Jahrbuch "Lichtstrahl" und der konservativen, antisemitischen Monatsschrift "Auf Vorposten" wurde der Text abgedruckt, eine erste eigenständige Veröffentlichung erfolgte im Januar 1920 durch Ludwig Müller, alias Gottfried zur Beek. In der Folgezeit avancierten die "Protokolle" zum Kultobjekt rechtsextremer Aktivisten. 1923 verfasste der Deutschbalte Alfred Rosenberg eine Studie "Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik", in der er die gegen die "jüdischen Verschwörer" zu treffenden Maßnahmen skizzierte. Deutschnationale Publikationen gingen immer wieder auf das Machwerk ein und benutzten es in der Wahlpropaganda.

Als um die Mitte der Zwanzigerjahre gröbere Zweifel über die Herkunft der Protokolle auftauchte, begannen deutschnationale Okkultisten das Elaborat zu esoterisieren. 1924 wurde es von einem "Kreis Wissender" textlich "richtiggestellt", mit einer Einleitung und einem Sachregister versehen und als "die Augen öffnende Erkenntnis" dargeboten. Nach Ansicht der Herausgeber waren die "Protokolle die wichtigste Erkenntnisquelle jüdischen Geistes, jüdischen Machtstrebens und jüdischen Verschwörertums."

Diese "Quelle" in ihrer ganzen Tragweite zu erschließen, wäre daher "auch das wirksamste Mittel, die Völker über die ihnen von Seite des Judentums drohende Gefahr aufzuklären." In diesem Sinne sollte durch die Neubearbeitung und Neuherausgabe der "Protokolle" das "Wissen um die Judengefahr zum Gemeingut aller Völker" gemacht werden. (Protokolle, Seite 3f)

Gemeingut wurden die "Protokolle" zuallererst in nationalsozialistischen Kreisen. Ab 1929 wurden sie von Joseph Goebbels zur Unterstützung der NS-Propaganda offiziell verbreitet. 1933 schrieb Gottfried zur Beek im Vorwort der Neuausgabe der "Geheimnisse der Weisen von Zion": "Es ist die Pflicht jedes Deutschen, die grauenhaften Geständnisse der Weisen von Zion zu studieren und damit die heutige grenzenlose Not unseres Volkes zu vergleichen und die Erkenntnisse daraus zu ziehen, dann aber auch zu handeln und dafür zu sorgen, dass dieses Werk in die Hand jedes Deutschen kommt." Viel früher kam es schon in die Hände Hitlers, der meinte, die einzige Antwort auf diese Anmaßungen sei die "vollständige Unterwerfung" der Juden. Bis zum Kriegsende 1945 dienten die "Protokolle" den Nazis als Propagandamittel und als Rechtfertigung für den Holocaust.

Auch in anderen Ländern hetzten die "Protokolle" die Maschinerie des Antisemitismus an. In Großbritannien wurden sie mit einer angeblichen jüdisch-bolschewistisch-freimaurerischen Weltverschwörung verknüpft, die 1918 in einem Buch mit dem Titel "England Under the Heel of the Jew" konstatiert wurde. Aber gerade in dem Moment, als die durch die "Protokolle" ausgelöste Hysterie auf den Höhepunkt zusteuerte, erbrachten die Times im August 1921 erstmals den Nachweis, dass die Schrift eine Fälschung ist. Bereits damals wurde Jolys "Dialogue aus enfers" als wichtigste Quelle genannt, auch die Hintergründe und Drahtzieher der Fälschung konnten zum Teil bereits ausgeforscht werden (Cohn, Seite 89ff). Mit diesen Enthüllungen war die Karriere der "Protokolle" in England praktisch zu Ende. In anderen Ländern wurde die Hetzschrift trotzdem weiterverbreitet: 1920 erschienen die "Protokolle" erstmals in den USA, in Polen, Frankreich und Schweden, 1921 in Italien, 1922 in Ungarn, 1923 in den baltischen Staaten und in Rumänien, 1927 in der CSR, 1928 in Griechenland, 1929 in Jugoslawien, 1930 in Spanien und Portugal, bis 1944 folgten u.a. Südafrika, Belgien, die Niederlande, Norwegen, Dänemark und südamerikanische Staaten.

Die Zweifel an der Echtheit führten 1934/35 zu zwei aufsehenerregenden Prozessen in Grahamstown (Südafrika) und in Bern. Im ersteren Fall wurden drei Mitglieder der faschistischen "Grauhemden" zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Verhetzung verurteilt. Das Berner Urteil anerkannte die vorgelegten Gutachten über die Fälschung, was spätere Antisemiten veranlasste, hinter dem Urteil die "Weisen von Zion" zu vermuten.

Das Fortleben der Protokolle nach 1945

Mit der Gründung Israels 1948 begann der Siegeszug der "Protokolle" im arabischen Raum, bis heute sind dort dutzende Versionen verbreitet worden. In den Siebzigerjahren tauchten bei US-Nazis die "Protocols of the Learned Elders of Zion" als "Waffe gegen das verschwörerische Judentum" auf. Um 1990 begannen russische Rechtsextremisten das Machwerk wieder zu verbreiten, im deutschen Sprachraum brachten esoterisch geschulte Verschwörungstheoriter die Protokolle wieder ins Gespräch (Laqueur, Seite 56f).

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Ein Beispiel zur Illustration: War die französische Revolution eine jüdische Verschwörung? Ein Auszug dazu aus den "Protokollen" zeigt alleine im Stil der Darstellung schon den Ursprung des Textes: der angebliche jüdische Textverfasser sieht die Welt mit den ideologischen Augen seiner angeblichen Feinde und sich selber als hinterlistigen, verschwörerischen Agenten, der die natürliche (hier feudale) Ordnung zersetzen will.