Als wir drei Steyrer, Franz Draber, Karl Punzer und ich in eine gemeinsame Zelle der Todesabteilung gelegt wurden, fanden wir zwei Geldscheine, einen Zwanzig- und einen Fünfzigmarkschein, den ein vor uns verurteilter und hingerichteter, uns unbekannter Mithäftling versteckt hatte. Wir teilten das Geld und mussten dazu Hölzlziehen. Auf Karl Punzer fiel der Fünfzigmarkschein, auf Franz Draber der Zwanziger und ich ging leer aus. Wir vereinbarten, bei der Flucht in der Reihenfolge des größeren Geldbesitzes zu laufen, weil ein größerer Geldschein in der Freiheit mehr Chancen geben würde.
Das Todesurteil gegen sechs Steyrer NS-Gegner:
Wir waren schon sechs Monate in der Todesabteilung stationiert und jeden Tag konnten wir drankommen. In den letzten Tagen wurden wir häufig zum Wassertragen eingesetzt, weil durch einen Bombenangriff die zentrale Wasserversorgung zerstört worden war. Das Zuchthaus Stadelheim verbrauchte viel Wasser, um Fallbeil und Hinrichtungsraum zu säubern, denn täglich, auch an Samstagen, wurden 20 bis 45 Hinrichtungen durchgeführt. In großen Kannen, die wie "Müllipitschn" aussahen, schleppten wir das Wasser.
In der Todeszelle kreisten unsere Gespräche um die Frage, auf welche Weise eigentlich das Wasser ins Gebäude kam. Wir waren überzeugt, dass ein Tor in den Vorhof zu den Aufseherwohnungen offen sein musste, weil das Wasser in einem Schlauch hereingeleitet wurde, und der würde ja bei geschlossenem Tor abgeklemmt werden.
Wir kannten uns auf dieser Seite des Gefängnisses ziemlich gut aus, weil wir schon lange da waren und in der langen Untersuchungshaft auch öfter zu Arbeiten für die Aufseher eingesetzt wurden. Franz Draber musste einige Mal Schlösser reparieren. Karl Punzer war Tischler und die Gefängnisverwaltung nutzte seine gediegenen Fähigkeiten weidlich aus. Er musste manchmal im äußeren Hof, also schon jenseits der Aufseherwohnungen, Möbel zerlegen oder Teile zusammenbauen. Dabei machte er eine äußerst wichtige Entdeckung: In der Mauer befand sich eine kleine unversperrte Tür, durch welche die Frauen der Wachebeamten aus- und eingingen, wenn sie nach draußen mussten. Offenbar wollten die Frauen den Umweg durch ein großes Tor vermeiden.
Am 30. November 1944 war es dann soweit. Früh am Vormittag, etwa um 8.30 Uhr, waren wir zum letzten Mal zum Wasserdienst eingesetzt. Wir ließen die Kanne fallen und in der entstandenen Verwirrung rannten wir los. Die Aufseher schrieen wild hinter uns her, sie waren wegen der großen Gefahr in der Todesabteilung unbewaffnet und konnten dadurch nicht auf uns schießen. Wir rannten durch das Tor, durch das der Wasserschlauch gelegt war, kamen in ein Aufseherhaus hinein und wieder hinaus, stürmten über den äußeren Hof auf die kleine Pforte zu, und die winzige Tür war offen. Dann liefen wir vereinbarungsgemäß jeder in eine andere Richtung weiter. Franz Draber verlor ich rasch aus den Augen, aber ich sah noch, wie Karl Punzer zusammenbrach. Er wurde gefangen und einige Tage später hingerichtet.
Vor den Mauern draußen arbeiteten Gefangene, Sie wurden von den Aufsehern angetrieben, mir den Weg abzuschneiden. Ich rannte zunächst über einen Sturzacker, dann musste ich, um meinen Verfolgern auszuweichen, in den nahe beim Gefängnis liegenden Friedhof hinein. Später hat es geheißen, ich sei in ein offenes Grab gesprungen. Aber da wäre ich im Ernstfall gefangen gewesen wie ein Wolf in der Grube.
Ich legte mich daher zwischen zwei frische Gräber und zog von beiden Grabhügeln einen Haufen frischer Kränze über mich. Hier lag ich etwa dreiviertel Stunden. Die Verfolger liefen vorbei, sie hatten inzwischen auch einen Suchhund eingesetzt. Aber der Hund war überfordert, weil alles überstürzt vor sich ging. Er hätte zuerst in meine Zelle geführt werden müssen, um meine Witterung aufnehmen zu können. Dies war nicht geschehen, und so kläffte der Hund zwar wild herum, konnte mich aber nicht entdecken.
Meine Rettung war ein Fliegeralarm: Meine Verfolger mussten abrücken. Während in der Nähe die Bomben krachten, kroch ich vorsichtig aus dem Friedhof hinaus. Das Gelände bestand abwechselnd aus Wald- und Wiesenstreifen, die jeweils eine Tiefe von einigen hundert Metern hatten. Ich sah zwei uniformierte Radfahrer und sprang in einen Splittergraben. Es war ziemlich nebelig und schließlich kam ich nach etwa einer Stunde an die Autobahn München-Salzburg heran. Sie war für Fahrzeuge gesperrt, weil die Messerschmitt-Jäger sie als Startbahn benützten. Wie ich später entdeckte, war ich rein zufällig in die einzig mögliche Richtung gelaufen. Ich ging durch eine Unterführung der Autobahn und befand mich plötzlich inmitten einer Anzahl von Uniformierten.
Wahrscheinlich trug meine Kleidung viel zu meiner Rettung bei. Das "Totengwandl", wie wir Häftlinge diese Kluft nannten, bestand nämlich aus ausgedienten Uniformen der schwarzen SS, ohne die auf den Häftlingskleidern üblichen Streifen. Dadurch war das "Totengwandl" einer Eisenbahneruniform ähnlich und fiel nicht als Zuchthauskleidung auf. Ich stolperte in eine Schottergrube hinein und weil hier viele Leute arbeiteten, ging ich auf die Autobahn zu. Bei einer netzgetarnten Flak-Stellung stoppte mich ein Soldat und fragte nach meinem Ausweis. Ich erklärte, dass ich bei den BMW dienstverpflichtet und dort gerade einem Bombenangriff entkommen sei. Meine Frau sei in ein Dorf evakuiert, ich müsse sie suchen, damit sie wisse, dass ich davongekommen sei. Man sollte den Vogel zum Leutnant bringen, meinte einer der Soldaten, aber ein anderer sagte. "Hau ab!" Ich sprang über die Böschung hinunter, und ein Soldat rief mir nach: "Las dich nicht noch einmal auf der Autobahn blicken, das ist verboten!"
Ich marschierte dann fünf bis sechs Stunden, wie ich meinte, parallel zur Autobahn. Ich kam durch ein Dorf, und als ich schließlich wieder an die Betonbahn herankam, sah ich an einem Merkzeichen, dass ich erst einen einzigen Kilometer vorwärts gekommen war. Aber die Richtung stimmte, denn ein Wegweiser zeigte nach Rosenheim. In einem Stadel habe ich übernachtet, und am nächsten Tag schmerzten mich meine Knie derart, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Es hatte zu schneien begonnen.
Ich schleppte mich mühsam dahin und jetzt, da die ungeheure Spannung nachgelassen hatte, war ich niedergeschlagen und tief erschöpft. Als ich bei Rosenheim über die hohe Innbrücke kam, zweifelte ich, ob meine Flucht wirklich weitergehen könne. Ich schaute hinunter und es kam der Gedanke in mir auf, mich in die Tiefe zu stürzen. Aber der Überlebenswille gewann wieder Oberhand. Ich bin dann hauptsächlich in der Nacht weitermarschiert. Bis in die Gegend von Salzburg an der alten österreichischen Grenze hatte ich mich dreimal in einen Heustadel verkrochen.
In einem kleinen Dorf habe ich in der Nacht einen Pfarrhof aufgesucht. Ich pochte mit dem Türklopfer den Pfarrer heraus und sagte ihm, dass ich aus dem Lager Dachau ausgebrochen sei. Von der Todesabteilung in Stadelheim sagte ich nichts. Der Pfarrer war zu Tode erschrocken und sagte, er sei selber verfolgt und könne mir kein Quartier geben. Da ich jedoch von dem Eisregen ganz durchnässt und teilweise vereist war, ließ mich der Pfarrer beim Ofen etwas auftauen. Ich habe lediglich Wasser getrunken. Von dem Pfarrer konnte ich erfahren, dass die Brücke über die Salzach im Rohbau schon fertig war. Ich nahm meinen Marsch wieder auf.
Inzwischen ist auf den Wiesen der Schnee liegen geblieben, und ich konnte wegen der Fußspuren, die mich verraten hätten, in keinen Stadel mehr hinein. Bei einem Bauern habe ich mich etwas getrocknet. Aber das Flüstern der Bauersleute ließ mich nichts Gutes ahnen. Schnell bin ich wieder auf und davon. Da ich keine Kopfbedeckung hatte, hab ich mir ein Sacktuch über den Kopf gespannt. Schließlich bin ich auf der heutigen Bundesstraße 1 bis Timelkam gekommen. Erst dort konnte ich wieder einmal schlafen, und zwar in einem Pferdestall. Bei Lenzing überquerte ich unbehelligt die Ager und über die Gegend von Regau kam ich am helllichten Tag nach Gmunden. Bei meinem "Einzug" wurde gerade Fliegeralarm gegeben. Ich rannte durch die Stadt, was weiter nicht auffiel, weil es aussah, als liefe ich zu einem Schutzraum.
Nun wurde mein Weg systematischer, weil ich mich hier schon besser auskannte. Ich konnte noch einmal in einem Heustadel übernachten, kam durch Scharnstein und über den Ziehberg nach Micheldorf hinüber. In der Nähe von Micheldorf bei Altpernstein kam ich an einer Kohlstatt vorbei. Der Köhler bewachte mit umgehängten Gewehr ausländische Zwangsarbeiter. Ich kam dem Bewacher verdächtig vor, und er hielt mich an. Da ich aber hier schon im Gebiet meiner Heimatsprache war, wurde ich bereits frecher.
Ich erzählte, dass ich im Ersatzwerk der Steyr-Werke in Kirchdorf arbeite und mein Fahrrad gebrochen sei. Der Köhler sagte, er müsse mich zur Gendarmerie bringen. "Da willst du dir einen guten Tag machen", rief ich ihm zu, "und die Leute willst du unbeaufsichtigt lassen?" Der Köhler wurde unschlüssig und ließ mich ziehen. Ich versprach ihm noch, mich bei der Gendarmerie zu melden.
So kam ich bis Leonstein im Steyrtal. Dort hatte ich aus meiner Zeit bei den Kinderfreunden Bekannte in einem abseits gelegenen Haus. Ich bemerkte zwar, dass Licht in einem anderen Teil des Gebäudes brannte, als ich es in Erinnerung hatte. Ich schlich mich in das Vorhaus. Plötzlich hörte ich Stimmen von Kindern und einer mir unbekannten Frau. Das Haus war inzwischen in zwei Wohnungen geteilt worden. Ich wartete im Dunkeln auf meinen Bekannten, einen Sensenschmied aus Leonstein. Als er kam, war er ganz außer sich und flüsterte: "Jessas, der Peperl aus Steyr! Ich habe geglaubt, du bist schon tot."
In der kleinen Wohnung erklärte mir der Bekannte, dass er mich nicht lange behalten könne, weil die Räume sehr klein sind und er ständig von einem alten Eisenbahnpensionisten besucht werde. Während wir noch sprachen, kam auch schon ein älterer, weißhaariger Mann herein. Der Sensenschmied berichtete zögernd über meinen "Fall", und zu unserer Überraschung sagte der Eisenbahnpensionist sofort, es sei gut, dass man endlich etwas gegen die Faschisten tun könne. Er hatte bereits von mir gehört. In dem kleinen Zimmer wurde es plötzlich warm, weil mich das Gefühl überwältigte, seit meiner Flucht erstmals wieder unter Menschen zu sein.
Der Eisenbahner war ein erfahrener Sanitäter und schnitt mir zunächst vorsichtig die Fetzen von meinen blutverkrusteten Füßen. Er gab mir lauwarme Magermilchsuppe zu essen, weil mich jeder kräftigere Bissen schwer geschädigt hätte. Jetzt erst fiel mir ein: Am 30. November war ich in Stadelheim ausgebrochen, am 8. Dezember bin ich in Leonstein angekommen. Ich hatte in den ganzen acht Tagen keinen Bissen gegessen.
Über den Eisenbahnpensionisten, der mich pflegte, wurde dann die Verbindung nach Steyr hergestellt. Trotz der Verhaftungswelle und dem ständigen Druck der Gestapo war die Organisation intakt geblieben. Schon nach einigen Tagen bekam ich aus Steyr Kleider, Skischuhe und eine Pistole.
Da es in dem kleinen Haus auf die Dauer zu gefährlich geworden wäre, wurde ich zu einem Bauern in einem abgelegenen Graben gebracht, wo ich auf dem Heuboden, von dem Bauern gut versorgt, Weihnachten und Neujahr 1945 verbringen konnte. Dann aber sollte der Sohn des Bauern auf Urlaub kommen. Da könne ich, so meinte der Vater, nicht bleiben.
Zusammen mit einem Steyrer Genossen zog ich mit den Skiern durch Molln und die Gegend der Breitenau ins Ennstal nach Großraming hinüber. Die Steyrer Organisation hatte mir inzwischen auch einen "gültigen" Wehrpass besorgt. Durch die Hilfsbereitschaft eines anderen Genossen kam ich schließlich nach Kleinreifling, wo ich im Haus einer Trafik, die genau dem Gebäude der Gendarmerie gegenüberlag, einquartiert wurde.
Obwohl nun schon eine Anzahl Menschen von meiner Anwesenheit wissen musste, weil schon eine ganze Gruppe mit der Organisierung der Hilfe beschäftigt war, drang nichts nach außen. Meine Mutter, die in Leonstein als Köchin in einem Kinderheim arbeitete, wusste nichts von meiner Anwesenheit. Ich denke noch heute mit Ergriffenheit an die Genossen und Kameraden, die mir damals geholfen haben, obwohl sie dabei selbst allesamt ihr Leben aufs Spiel setzten.
Am 1. Mai 1945 kam ich hinter den Resten der geschlagenen deutschen Armee aus dem Ennstal heraus und begann in Steyr-Münichholz sofort wieder mit der Parteiarbeit.