(Artikel im Wochenblatt "Welt am Montag" vom 6.10.1930 über den NSDAP-Wahlerfolg vom 14.9.)
Dem Ausland waren die Ausmaße des Hitlerischen Wahlsieges natürlich eine noch größere Überraschung als dem Inland, da es auf ein starkes, wenn auch nicht so starkes Anschwellen der nationalsozialistischen Stimmen gefasst gewesen war. Die Welt zerbricht sich den Kopf darüber, worauf die Verneunfachung der Hitlerstimmen zurückzuführen ist. Die verschiedensten Deutungen kommen zum Vorschein. Die Deutschland besonders wohlgesinnte Presse des Auslandes führt vielfach als Hauptgrund die riesige Arbeitslosigkeit an. "Deutschland hat drei Millionen Arbeitslose, sie haben fast sämtlich nationalsozialistisch gewählt. Ergo." So konnte man wörtlich in Paris und anderswo lesen.
Irrtum! Von den drei Millionen Erwerbslosen hat nur ein verschwindend geringer Prozentsatz Hitler seine Stimme gegeben. Diese drei Millionen stellen vielmehr das Gros der kommunistischen Wähler dar. Wenn die KPD von 55 auf 77 Mandate gestiegen ist, so ist das die automatische Rückwirkung der steigenden Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosen waren also nicht die Hauptwähler Hitlers. Wohl aber ist richtig, dass die Wirtschaftskrisis, deren äußeres Symptom die riesenhafte Arbeitslosigkeit ist, die Grundlage des Hitlerischen Sieges war.
Die Hitlerwähler setzen sich aus zwei Kategorien zusammen: einer kleinen Minderheit von Nationalsozialisten, die auf das Hakenkreuz eingeschworen sind, und einer riesigen Mehrheit von Mitläufern. Keine andere deutsche Partei ist so labil wie die nationalsozialistische, das heißt, bei keiner anderen ist das Missverständnis zwischen Stammkunden und Laufkunden ebenso groß. Sozialdemokratie, Kommunisten, Zentrum, Demokraten, Volkspartei - überall gibt es Schwankungen, recht erhebliche vielleicht. Aber bei keiner anderen Partei ist es denkbar, dass eine plötzliche Verneunfachung erfolgt, die vielleicht bei der nächsten Wahl von einer Drittelung abgelöst wird.
Die Nationalsozialisten haben ja schon einmal den Wechsel von Hoch und Tief erlebt. Aus den 32 Abgeordneten von 1924 wurden die 12 von 1928. Wieviel werden aus den 107 von 1930 bei den Wahlen von 193? werden?
Das hängt ganz von den Umständen ab. Scheint der deutschen Wirtschaft wieder einmal die Sonne, so schmelzen die Hitlerwähler wie Schnee dahin. Die 6 1/2 Millionen werden ja durch kein inneres Band zusammengehalten. Sie sind zu neun Zehntel nicht Wähler für, sondern nur Wähler gegen.
Dabei soll nicht verkannt werden, dass Hitler, der ein ausgezeichneter Organisator mit Suggestivkraft ist, über eine ihm blind ergebene Kerntruppe von einigen hunderttausend Mann, meist recht jugendlichen Truppen verfügt. Idealisten mit verwirrtem Kopf und Landsknechte ohne Kopf, insgesamt ein paar hunderttausend Mann, das ist Hitlers Kerntruppe.
Die Millionen der Wähler, die er diesmal mustern konnte, dank der Gunst der Umstände, das heißt dank der Ungunst der Wirtschaftslage, rekrutieren sich aus den verschiedensten Schichten. Da sind Arbeiter, relativ genommen nicht sehr viele, aber eine Million wird es doch wohl gewesen sein. Es sind Landarbeiter, die sich immer noch vom "gnädigen Herrn" abhängig wähnen und von ostelbischen Granden für Hitler kommandiert wurden. Es sind jene labilen Elemente, die erst bei den Kommunisten hospitiert haben und sich nun den Nationalsozialisten zuwenden, weil diese sich noch radikaler gebärden. Es sind junge Leute, Friseurgehilfen, Chauffeure usw., die sich etwas Besseres dünken als die Masse der gewerkschaftlich organisierten Fabrikarbeiter.
Da sind Massen von Angestellten, insbesondere aus den Kreisen der deutschnationalen Handlungsgehilfen, die berühmten oder berüchtigten Stehkragenproletarier. Ihr Interesse müsste sie in eine Einheitsfront mit den Arbeitern führen. Aber ihr "Standesgefühl" ist stärker als ihre soziale Einsicht.
Da ist das Gros der Studenten und sonstigen jungen Akademiker. Bei ihnen fällt die antisemitische Hetzphrase auf besonders dankbaren Boden. Der Jude wird eben als unbequemer Konkurrent empfunden. Sie sind fanatisch nationalistisch. Den Krieg kennen sie nicht. Darum begeistern sie sich für ihn.
Da sind bedauerlich viele Beamte. Ihre politische Freiheit verdanken sie ausschließlich der Republik. Aber leider hat ihnen die Republik mit der politischen Freiheit nicht auch zugleich das politische Denken geben können, das ihnen in der Kaiserzeit ausgetrieben worden war. Sie sind ein besonders dankbares Objekt für Demagogen.
Da ist vor allem der große Block des so genannten selbständigen Mittelstandes. Diese Millionen von Handwerkern, Gewerbetreibenden und Kleinkaufleuten führen seit der nach 1871 einsetzenden großindustriellen Entwicklung einen verzweifelten Kampf um ihre Existenz. Es fehlt ihnen an wirtschaftlicher Einsicht. Darum fallen sie auf jeden Schwätzer herein, der ihnen die Wiederherstellung des "goldenen Bodens" durch Kampf gegen Juden und Warenhäuser, gegen Börse und Gewerbefreiheit verspricht. Einst liefen sie Stöcker und Ahlwardt*) nach. Heute ist Hitler ihr Prophet.
*) der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker (1835-1909) - er gründete 1878 die Christlichsoziale Partei - und der Agitator Hermann Ahlwardt (1846-1914) waren berüchtigte Antisemiten der Kaiserzeit.
Die Nationalsozialisten rühmen sich, 34000 Wahlversammlungen abgehalten zu haben. In diesen Versammlungen sprachen sie also: "Wenn wir die Macht bekommen, werden sofort die Youngzahlungen eingestellt. Dadurch erspart das Deutsche Reich 1700 Millionen Reichsmark jährlich. Diese Ersparnis wird dazu verwendet, um die Steuern herabzusetzen. Die Gewerbesteuer wird aufgehoben. Rechnet euch selbst aus, was das für jeden einzelnen ausmacht! Wählt ihr nun lieber die Young-Parteien, die den Tribut weiter entrichten wollen, oder uns, die wir das deutsche Volk von seinen Unterdrückern und den Mittelstand von seinen Steuern befreien wollen?"
Das war Honig. Da jauchzten die Mittelständler. Diese armen Seelchen haben ja keine Ahnung von den Zusammenhängen der Weltwirtschaft und von den Grundlagen der Weltpolitik. Ihnen ging das nationalsozialistische Hexen-Einmaleins glatt auf. Ein Rechenexempel in der Klippschule.
Das ist das erschütternd Trostlose an dem Wahlergebnis vom 14. September, dass die Welt sehen muss, wie viel Millionen politische Analphabeten es noch in Deutschland gibt.
Die Millionen der Hitlerwähler sind nicht etwa ebensoviel Millionen zum Revanchekrieg entschlossener Teutonen. Sie denken gar nicht daran, ihr Blut riskieren zu wollen. Sie möchten nur ihr Gut wahren, und sie bilden sich ein, die nationalsozialistische Sackgasse sei der Weg in die Steuerfreiheit.
Das ist beruhigend - für das Ausland - und höchst beunruhigend für das Inland. Denn wie soll irgendeine Regierung vernünftig Politik machen mit Millionen von Wählern, die noch nicht einmal das politische ABC kapiert haben?
Hellmuth Georg von GERLACH, 1866 - 1935, Ende 1918 gehörte er zu den Gründern der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP). 1925 wurde er Präsident der Deutschen Liga für Menschenrechte. Für den inhaftierten Carl von Ossietzky übernahm er von Mai bis Dezember 1932 die Leitung der Zeitschrift "Die Weltbühne". Nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten ging er Anfang März 1933 ins Exil nach Österreich. Auf Einladung der französischen Liga für Menschenrechte siedelte er im April 1933 nach Paris über. Er setzte dort sein journalistisches und pazifistisches Engagement fort. Schrieb in der - nun im Exil erscheinenden - "Neuen Weltbühne", warnte vor dem NS-Regime und engagierte sich für die deutschen Emigranten bei der Französischen Liga für Menschenrechte, er starb in Paris.