Dass die NS-Volksgemeinschaft entgegen den Propagandatiraden auch im Krieg nicht aus lauter gleichgewichtigen Volksgenossen bestand, zeigt der untenstehende Text ...

Ungleicher Volksgenosse

24. September 1941: Schreiben der Gauleitung Berlin an die Partei-Kanzlei

Ich kann Ihnen heute Meldung machen über einen Skandalfall, der z. Zt. wohl kaum zu überbieten ist.
Anfang dieses Jahres zog SS-Obergruppenführer Heißmeyer nach seiner Verheiratung aus seiner Villa Berlin-Schlachtensee, Schemannzeile 21/23, aus. Wenn dieses Haus dem SS-Obergruppenführer Heißmeyer für seine repräsentativen Pflichten jahrelang genügte, dann kann wohl jeder deutsche Volksgenosse annehmen, daß der nächste Besitzer während dieses Krieges keine allzu großen Umbauten vorzunehmen braucht. Das ist aber weit gefehlt: Sechs Monate lang war das Grundstück Schemannzeile 2l/ 23 eine gewaltige Baustelle. Der Dringlichkeit wegen wurde teilweise auch an Sonn- und Feiertagen geschafft, monatelang wurde im Innern des Hauses gearbeitet. Dann wurde der Dachboden umgebaut, ein neuer Schornstein aus Klinkersteinen hochgeführt, die bisherigen zwei Schornsteine abgerissen und ebenfalls durch neue aus Klinkersteinen ersetzt. Das ganze Dach wurde mit neuen Dachziegeln gedeckt. An der Rückseite des Hauses erfolgte der Ausbau einer großen Terrasse, an der Vorderseite der Anbau eines Windfangs am Hauseingang. An der Front zur Kossinastrasse wurde ein Erker umgebaut, dann wurde das ganze Haus neu abgeputzt.

Der ca. 120 m lange Zaun wurde abgebrochen; anstelle der tadellos erhaltenen Ziegelsteinmauer wurde eine neue Mauer, 120m lang, 65cm hoch, aus Klinkersteinen ausgeführt; die in kurzen Abständen stehenden Sockel verbindet ein neuer Zaun aus besonders schönen Hölzern. Im Stil des Hauses wurde nun die Garage umgebaut. An ihrer Rückseite sieht man ein kleines Gewächshäuschen. Hiernach wurde der große Garten umgestaltet. Mittels einer kleinen Feldbahnanlage wurden hunderte Kubikmeter Erde bewegt. Eine große Zahl von Lastwagen mit Gartenerde, Torfmull, Lehm, natürlichem Dünger u. a. m. wurden herangefahren. Der tiefer gelegene Teil des Gartens wurde mit einer langen Stützmauer aus größeren Steinen versehen. Inmitten des Gartens wurde ein Schwimmbassin von 5 x 6 m ausgehoben und mit weissen Kacheln ausgelegt. Nun erschienen Gartengestalter und legten edle Blumen-Arrängements an. Die Wege des Gartens wurden mit großen Steinfliesen ausgelegt und um das gesamte Grundstück zur Strassenfront frischer gelber Kies geschüttet.

Diese Arbeiten wurden unter starkem Einsatz von Trekkern und Lastkraftwagen durchgeführt. Die vielen Kraftfahrzeuge nahmen teilweise die lange Strecke von der Lagarde- bis zur Kossinastrasse ein. Neben einer größeren Zahl von Zivilbauhandwerkern aller Art wurden ca. 20-30 Häftlinge aus dem KZ-Lager Oranienburg beschäftigt. Diese Häftlinge wurden täglich mit Kraftfahrzeugen von Oranienburg quer durch Berlin nach Schlachtensee und abends wieder zurückgefahren. Sie wurden während dieser Fahrt und während der Arbeitszeit von einer starken SS-Wache beaufsichtigt. An diesem Bauvorhaben waren also täglich sechs Monate lang ca. 50 Männer angesetzt.

Die Auswirkungen dieses zivilen Bauvorhabens auf die Stimmung der Berliner Bevölkerung sind verheerend. Viele deutsche Volksgenossen der umliegenden Stadtteile wanderten zu dieser Baustelle, um sich selbst davon zu überzeugen, wie sich ein führender Mann der nationalsozialistischen Bewegung im Kriegsjahr 1941 "ein bescheidenes Heimchen" gestaltet. Im Angesicht dieser Bauarbeiten unterhielten sich Hausbesitzer darüber, wieviel Antragsformulare, Fragebogen u.a.m. sie ausfüllen müssen, um für eine kleine, aber dringende Reparatur einen Sack Zement zu erhalten, um zum Umsetzen eines schadhaften Ofens eine Arbeitskraft zugewiesen zu bekommen.

Ihre Anträge würden meistens abgelehnt unter Berufung auf den Göring-Erlass, wonach "bis auf weiteres kein Hammerschlag in Deutschland mehr erklingen darf, der nicht der Schärfe unseres Schwertes dient". Hausfrauen unterhielten sich darüber, daß ihr Gemüsehändler das Fehlen des Gemüses damit entschuldigt, daß ihm wieder monatlich 15 Liter Benzin gekürzt wurden und er deshalb nicht mehr täglich in die Markthalle fahren könne. Hier sahen die Frauen, wie tausende und abertausende Liter Vergaser- und Diesel-Kraftstoff Monat für Monat der Wehrkraft des Deutschen Volkes entzogen wurden.

Wiederinstandsetzungsarbeiten an durch Bombenangriffe beschädigten Häusern konnten in der letzten Zeit nicht mehr so schnell durchgeführt werden, wie es selbstverständlich wäre, weil es an Lastkraftwagen, Kraftfahrstoff und Fachkräften mangelt.

Daß über diesen Riesenskandal nicht früher berichtet wurde, erklärt sich dadurch, daß das Bauvorhaben getarnt wurde. Ein auf der Baustelle anwesender Bauführer erklärte dem zuständigen Ortsgruppenleiter, daß das Haus zu einer SS-Führerschule hergerichtet wird und so als kriegswichtiger Militärbau gelte. Nun ist aber das Rätsel gelöst: In das Haus ist eingezogen SS-Oberführer A. Frank.

Anm.: Oberführer August Frank, er war kein Spitzennazi, sondern ein SSler auf höherer Leitungsebene*) (Abteilungsleiter im Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS, Stellvertreter von Hauptamtsleiter Oswald Pohl), er wurde 1951 zu einer Haftstrafe verurteilt.
*) Oberführer entspricht einem billigen General oder besserem Oberst, ein Brigadier beim österr. Bundesheer wäre auf der gleichen Stufe - der Vorbewohner war drei Ränge höher eingestuft, Obergruppenführer = General.