Der Antisemitismus wurde nicht von der NSDAP erfunden. Im 19. Jahrhundert erfolgten in Deutschland in der so genannten Gründerzeit wesentliche und einschneidende ökonomische Umwälzungen ähnlicher Art wie heute durch den Neoliberalismus (damals: Manchester-Liberalismus).
Der folgende Text schildert wie diese Veränderungen - speziell durch die Krise von 1873 - dazu beitrugen, Antisemitismus - über die Traditionen des christlich-religiösen Antisemitismus hinaus - zu einer Massenideologie zu machen:

Rainer Jeglin

Der antisemitische Zeitgeist im ausgehenden 19. Jahrhundert

1974 erlebte das neugegründete deutsche Kaiserreich einen tiefgreifenden Wandel des politischen und geistigen Klimas. Bis zum Herbst 1873 war die Öffentlichkeit erfasst von der Reichsgründungseuphorie und einem wirtschaftlichen Optimismus, der sich in dem schier überschäumenden Boom 1867- 1873 manifestierte. Das Gründungs- und Spekulationsfieber hatte nicht nur Bourgeoisie und Adel gepackt, sondern auch weite Kreise des Mittelstandes; die Vorzüge des sich entfaltenden liberal-kapitalistischen Systems im obrigkeitsstaatlichen Gehäuse Hohenzollern-Preußens schienen nahezu jedermann evident, mithin auch liberale Wirtschaftsprinzipien wie Freihandel oder Gewerbefreiheit. Der Nationalliberalismus, jene parteipolitische Strömung des (noch) liberalen Bürgertums, auf das sich Bismarck zusammen mit der militärisch-aristokratischen Elite bei der Errichtung des Reiches bis 1879 stützte, hatte auf der politischen Bühne seine Konjunktur und bestimmte somit den Zeitgeist. Von dieser liberalen Ära profitierte unter anderem auch die jüdische Minderheit, denn die nahezu hundertjährige Debatte, die hohe Verwaltungsbeamte, Schriftsteller und Parlamentarier in der gebildeten und politisch interessierten Öffentlichkeit über die rechtliche Gleichstellung und bürgerliche Verbesserung der Juden (so Christian Wilhelm Dohm in seiner bahnbrechenden Schrift von 1781) führten, fand mit dem von den Nationalliberalen durchgesetzten Emanzipationsgesetz von 1869 beziehungsweise 1871 ihren politischen Abschluss. Diese nun endlich vollzogene Emanzipation der Juden, deren befremdliche Minderheiten- und Sonderexistenz am Rande der alten, vormodernen Gesellschaft schon lange zutreffend als das Ergebnis Jahrhunderte langer Verfolgung, Ausbeutung und Unterdrückung durch die christliche Mehrheit erkannt war, bildete dabei ein Element der notwendigen Modernisierung Deutschlands hin zu einer liberal-kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, in der längerfristig weder Privilegien des Adels noch diskriminierende Sonderstatuten für Bürger etwa aufgrund des religiösen Bekenntnisses Platz haben konnten.

Schon während der Emanzipationsperiode und verstärkt nach der Reichsgründung, als keine Hindernisse in der Freizügigkeit mehr vorhanden waren, gelang es einem großen Teil der etwa 470.000 Juden im Reich, die damals 1,2% der Gesamtbevölkerung ausmachten, in gesichertere Mittelschichtpositionen aufzusteigen. Anders als in Handwerk und Industrie, wo der Anteil der jüdischen Beschäftigten entweder unterrepräsentiert oder nur durchschnittlich blieb, fanden Juden vor allem in den Sektoren Handel und Verkehr ihre Existenzgrundlage, wobei ihnen die früher aufgezwungene Spezialisierung auf Handel und Kreditgeschäfte in dem ersten tiefgreifenden Kapitalisierungsschub gewisse Startvorteile verschaffte. Besonders auffällig waren die Aufstiegserfolge im akademischen Bereich; trotz weiter bestehender informeller Diskriminierungsschranken - Juden blieben vom diplomatischen Dienst, vom höheren Staatsdienst und vom Offizierskorps weitgehend ausgeschlossen - konnten Juden ihren Anteil an der Studentenschaft eindrucksvoll steigern. Sie wandten sich mit dieser Ausbildung dabei vermehrt den freien Berufen (Ärzte, Rechtsanwälte oder Journalisten) zu. Zusammenfassend wird man sagen können, dass zu Beginn des Kaiserreichs "die Mehrzahl der Juden, wahrscheinlich waren es nahezu zwei Drittel, zur wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Oberschicht" zählte, dass also die jüdische Bevölkerung "bei der Verteilung des materiellen Wohlstands weit über dem Durchschnitt" lag und deshalb "in der bürgerlichen Klassengesellschaft des Deutschen Kaiserreichs eine deutlich herausgehobene Stellung" vorübergehend einnahm.

Mit dem Gründerkrach von 1873, der die lang anhaltende große Depression einleitete und den Deutschen erstmalig die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise vor Augen führte, waren nicht allein die liberal-kapitalistischen Wirtschaftsprinzipien diskreditiert, sondern ebenso die politisch-sozialen Errungenschaften der liberalen Ära. Ständisch-traditionelle Schichten, vor allem der Mittelstand, sahen sich als Opfer der neuen Wirtschaftsfreiheit und fühlten sich bedroht von dem neuen Konkurrenzprinzip; und sie mussten häufig gleichzeitig ansehen, wie die vormals randständigen Juden den krisenhaften Prozess besser meisterten. Diese neue Stimmungslage bildet den Hintergrund für den zunächst von verkrachten Journalisten vertretenen modernen Antisemitismus, der fortan den Zeitgeist im Kaiserreich wesentlich mitprägen sollte.

1874/75 erschien in der Gartenlaube, einem ansonsten gemäßigt konservativen bis liberalen Unterhaltungsblatt des Klein- und Bildungsbürgertums, eine Artikelserie des dem katholischen Zentrum nahestehenden Journalisten Otto Glagau mit dem bezeichnenden Titel "Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin". In ihr werden die Beschwerden des alten Mittelstandes (Handwerker, Kleinunternehmer, Gewerbetreibende, aber auch untere Beamte und Bauern) aufgegriffen und antisemitisch beantwortet: Jüdische Abgeordnete, vor allem bei den Nationalliberalen, hätten - so Glagau ­ Gesetze durchgesetzt, die Handel, Börse und Großunternehmen zum Schaden von Handwerk und Landwirtschaft förderten. Dieser ökonomische Liberalismus, der in der Begrifflichkeit Glagaus und seiner Zeitgenossen auch den Spitznamen Manchestertum erhielt, sei also das Werk der gerade emanzipierten Juden. Glagau formuliert dabei eine Liberalismus- und Kapitalismuskritik im antisemitischen Gewand, die typisch bleiben sollte bis hin zur antikapitalistischen Phraseologie der NSDAP:

"Das Judentum ist das angewandte, bis zum Extrem durchgeführte Manchestertum. Es kennt nur noch den Handel, und auch davon nur den Schacher und Wucher. Es arbeitet nicht selber, sondern lässt Andere für sich arbeiten, es handelt und spekuliert mit den Arbeits- und Geistesprodukten Anderer. Sein Zentrum ist die Börse (..) Als ein fremder Stamm steht es dem Deutschen Volk gegenüber und saugt ihm das Mark aus. Die soziale Frage ist wesentlich Gründer- und Judenfrage, alles übrige ist Schwindel."

Diese Oberflächenkritik der Gesellschaft aus der Feder von obskuren Enthüllungsjournalisten wird eine Angelegenheit der Politik und der politischen Strategie, als 1875 sowohl in der Germania, dem führenden Organ des politischen Katholizismus, als auch in der ultrakonservativ-reaktionären Kreuzzeitung, dem Sprachrohr der protestantischen Elite Preußens, antisemitische Artikelserien erschienen. In beiden fungiert der Antisemitismus als Agitationsmittel gegen den jüdischen Liberalismus, gegen die Modernisierung und Säkularisierung (Kulturkampf!) des neuen Staates. Mit diesen schrillen Polemiken bahnte sich Bismarcks innenpolitischer Kurswechsel an, nämlich dessen Abkehr vom Liberalismus zugunsten einer neuen konservativen Mehrheit im Rahmen der sogenannten zweiten Reichsgründung 1878/79, die in wirtschaftlicher Hinsicht eine schwerindustriell-agrarische Interessengemeinschaft, ein Bündnis von Rittergut und Hochofen, mit einer Schutzzollpolitik auf Kosten der Mehrheit der Verbraucher und der liberal-freihändlerischen Exportindustrie bediente.

Mit der Gründung der Christlich-sozialen Partei im Jahre 1878 durch den Hofprediger (!) Adolf Stoecker wird erstmals der Antisemitismus breitenwirksames Kampfmittel und Programmpunkt einer politischen Partei. Wollte Stoecker ­ gemäß seinem herausragenden Amt ein preußisch-konservativer Monarchist - mit seiner Partei und ihrer antiliberal-antisemitischen Agitation ursprünglich die selbstbewusst werdende Arbeiterschaft vom Sozialismus abbringen und für den angeblich sozial-fürsorglichen christlichen Hohenzollernstaat zurückgewinnen und sie in ihn einbinden, so findet er, nachdem sich die Arbeiter gegenüber diesen konservativ-klerikalen Integrationsversuchen auf dem Rücken der jüdischen Minderheit resistent erwiesen hatten, schließlich im desorientierten Mittelstand und in Teilen des (protestantischen) Bildungsbürgertums seine Zielgruppe. Wie Glagau polemisiert Stoecker gegen den Mammonismus und Materialismus der Zeit und sieht sie ebenfalls als Resultate eines jüdischen Liberalismus. Auf der Grundlage von altchristlichen antijüdischen Ressentiments, gemischt mit nationalistischen Überzeugungen der Reichsgründungszeit, schlägt bereits Stoecker rassistische Töne an, die später von den sogenannten Radau-Antisemiten aufgegriffen und intensiviert werden. Stoecker geht es nämlich nicht mehr allein um eine Revision der Judenemanzipation, wenn von der "parasitischen Existenz" der Juden inmitten des christlich-deutschen Volkes die Rede ist:

"Das jüdische Trachten nach Gold und Geld, diese Gier nach Gewinn und Genuss (..), dieser jüdische Kampf gegen alles, was heilig und unverletzlich ist, gegen alle Hoheit und Majestät im Himmel und auf Erden, dieses jüdische Wesen ist ein Gifttropfen in dem Herzen unseres deutschen Volkes. Wenn wir gesunden wollen, wenn wir unsere deutsche Volkstümlichkeit festhalten wollen, müssen wir den giftigen Tropfen der Juden aus unserem Blut loswerden."

Stoeckers Stimmungsmache erreichte in den Jahren 1879 bis 1881 ihren Höhepunkt. Sie erfasste endgültig das gehobene Bildungsbürgertum. So machte Heinrich Treitschke, der renommierte Historiker und Publizist, antisemitische Ressentiments in höchsten Kreisen des Reiches salonfähig. Ursprünglich ein Parteigänger der Nationalliberalen, befürwortete Treitschke zwar (noch) die Judenemanzipation, doch folgt er dem neuen Zeitgeist, wenn er alle Krisen und Probleme des modernen Deutschlands außer den von ihm besonders gefürchteten und bekämpften Sozialdemokraten der jüdischen Minderheit anlastet, die sich nach seiner Auffassung der völligen Assimilation widersetzen und somit den neuen Nationalstaat gefährden; sein berühmt-berüchtigter Artikel vom November 1879 in den Preußischen Jahrbüchern fasst noch einmal den Zeitgeist, akademisch-gemäßigt formuliert, doch wünschenswert klar zusammen:

Der "Instinkt der Massen hat in der Tat eine schwere Gefahr, einen hochbedenklichen Schaden des neuen deutschen Lebens richtig erkannt (..). Über unsere Ostgrenze (..) dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends und immer ernster wird die Frage, wie wir dies fremde Volkstum mit dem unseren verschmelzen können (..) Unbestreitbar hat das Semitentum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwesens einen großen Anteil, eine schwere Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage, der jede Arbeit nur noch als Geschäft betrachtet und die alte gemütliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes zu ersticken droht; in tausend deutschen Dörfern sitzt der Jude, der seine Nachbarn wuchernd auskauft. Unter den führenden Männern der Kunst und Wissenschaft ist die Zahl der Juden nicht sehr groß; umso stärker die betriebsame Schar der semitischen Talente dritten Ranges (..) Am gefährlichsten aber wirkt das unbillige Übergewicht des Judentums in der Tagespresse (..) Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuts mit Abscheu von sich weisen, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unserer Unglück!"

Zwar blieb diese von Treitschke losgetretene Mine im akademischen Bereich nicht unwidersprochen und entfachte damals bereits einen Historikerstreit, doch zeigt dieser Artikel ­ deutlicher vielleicht als die grobschlächtige Hetze der Radau-Antisemiten -, wie radikal sich das politisch-geistige Klima innerhalb von sechs Jahren gewandelt hat, wenn ein Befürworter der Emanzipation sich veranlasst sieht, für seine politisch-publizistischen Zwecke die antisemitischen Ressentiments zu verwenden. Dass er mit der wirkungsmächtigen Floskel "Die Juden sind unser Unglück" eine Propagandaformel der NS-Ideologie schuf, sei hier nur am Rande erwähnt.

Vor allem auf Berlins Straßen und in den Parteilokalen schwoll unterdessen die antisemitische Bewegung an. Ende des Jahres 1880 kam es zu regelrechten Radauszenen, in denen organisierte Banden "Juden raus!" riefen, Geschäfte und Lokale demolierten und angeblich jüdisch aussehende Passanten drangsalierten. Gleichzeitig war eine Unterschriftensammlung im Gange; Ziel dieser Antisemitenpetition war "die Emanzipation des deutschen Volkes von einer Art Fremdherrschaft", verlangt wurde darin das Verbot, zumindest aber die Einschränkung der Immigration ausländischer Juden, der Ausschluss der Juden von allen Regierungsstellen, die beschränkte Zulassung von Juden bei Gerichten, in den Schulen usw. Mit über 200.000 (!) Unterschriften wurde diese Petition Bismarck überreicht.

Auch wenn danach der parteipolitische Antisemitismus u. a. aufgrund der verbesserten konjunkturellen Entwicklungen seinen ersten Zenit überschritten hatte, konnte von einem Nachlassen der antijüdischen Stimmung im Reich keine Rede sein. Jenseits der parteipolitischen Schwankungen sorgte die hier skizzierte Entwicklung dafür, dass antisemitische Einstellungen in den achtziger Jahren nachhaltig in Verbände und Vereine drangen und dort das politische Alltagsbewusstsein weiter Bevölkerungskreise prägten.