Erfahrungsbericht des Oberbefehlshabers West für das Oberkommando der Wehrmacht zum 20. Juni 1944

Generalfeldmarschall Gerd v. Rundstedt informiert über die Erfahrungen der Truppenführung, die sie aus den Kämpfen mit den anglo-amerikanischen Streitkräften, die am 6.6. in der Normandie gelandet sind, gezogen hat. Rundstedt behandelt vor allem Fragen des Luftlandeeinsatzes, des Ablaufs der Seelandung und der Auswirkungen der anglo-amerikanischen Luftherrschaft auf die Kampfhandlungen.

1. Erfahrungen erfüllen nur dann ihren Zweck, wenn sie schnell und kurz an die Truppe gelangen. Dies geschieht von Zeit zu Zeit durch Einzelfernschreiben.
2. Nachstehende Erfahrungen fassen Bisheriges zusammen. Es bleibt den im Verteiler genannten Dienststellen die Auswertung bzw. Ergänzung nach eigenem Ermessen überlassen.

Die nachstellenden neuesten Kampferfahrungen bestätigen in groben Zügen alle die Erfahrungen, die von Sizilien, Salerno, Nettuno und den weiteren schweren Abwehrkämpfen in Italien schon bekanntgegeben wurden.

Die Nähe des engl. Mutterlandes und damit der gesamten Absprung- und Versorgungsbasen gestatteten dem Angelsachsen bei seinem ersten Großlandeangriff gegen die westliche Seinebucht und die Halbinsel Cotentin den bisher größten Aufwand an Menschen, Material und technischen Mitteln. Systematisch, beinahe wissenschaftlich betriebene Vorbereitungen auf allen Gebieten für diesen Angriff wurde dem Feinde durch ein weitmaschiges Agentennetz im besetzten Westgebiet in jeder Weise erleichtert. Die Befehle für Vorbereitung und Durchführung der Landung sind Bücher mit zahlreichen Anlagen (siehe Beutebefehl).

Die nachstehenden wichtigsten Kampferfahrungen sind zum Gegenstand der Belehrung und Übung in allen nicht angegriffenen Fronten, zur Beachtung durch Truppe und Kommando-Behörden im Kampfraum und zur Unterrichtung aller Dienststellen, Sicherungskräfte usw. im gesamten Sicherungsgebiet weiterzugeben.

I. 4 Tatsachen müssen hervorgehoben werden:
1) Völlige Luftherrschaft des Feindes.
2) Gewandter und großzügiger Einsatz feindlicher Fallschirm- und Luftlandetruppen.
3) Wendige, gut geleitete Unterstützung der Landtruppe durch die Schiffs-Artillerie starker englischer Flottenverbände - vom Schlachtschiff bis zum Gun-Boot.
4) Vorübung der feindlichen Landeverbände für ihre Aufgabe, genaueste Kenntnis der Küste, ihrer Sperren und Verteidigungsanlagen, schnelle Herstellung zahlenmäßiger und materieller Überlegenheit im Landekopf bereits nach wenigen Tagen . . .

II. Das feindliche Anlandeverfahren in großen Zügen:
a) Beginn der Luftlandungen an westl. Seinebucht und in Cotentin am 6. 6. gegen 01.00 Uhr morgens bei wolkigem, trübem Wetter mit stärkerem Wind, teilweise Schauer und Seegang bis zu 4. Gleichzeitig an verschiedenen Frontabschnitten starke Überflüge mit Bombenangriffen im Hinterland. Feind wollte hierdurch Fliegeralarm und Aufsuchen der Deckungen erreichen, um seine Fallschirmtruppen möglichst unbemerkt abwerfen zu können. An mehreren Stellen stellten sich abgeworfene Fallschirmspringer als Strohpuppen (mit in Holzkästen befindlichen Sprengkörpern) heraus. Zweck: Zersplitterung der örtlichen Reserven, Abziehen von entscheidender Stelle, dadurch Zeitverlust für den Verteidiger. Die Luftlandetruppen in zahlreichen Lastenseglern verschiedener Größe wurden nach genau ausgearbeitetem Plan schon über See oder an ganz anderer Stelle über Land ausgeklinkt und fanden im allgemeinen zielsicher ihre Landepunkte.
Eine Überraschung bedeuteten diese Luftlandungen trotzdem nicht, da eigene Führung und Truppe darauf seit Wochen eingestellt und auch bereitgestellt waren. So erlitten die feindlichen Fallschirm- und Luftlandetruppen schwere, teilweise sogar äußerst schwere blutige Verluste und wurden an den meisten Stellen im Verlauf der Kämpfe vernichtet. Ein Aufbrechen der Küstenverteidigung von rückwärts her gelang ihnen nicht! Lediglich im amerikanischen Landekopf nördl. Carentan wurden die feindlichen Luftlandetruppen - aber durch eigenen Angriff von 3 Seiten - in Richtung auf die Küstenverteidigung in zähen tagelangen Kämpfen zusammengedrückt und konnten dort Verbindung mit eigenen, bereits eingebrochenen Landekräften und dadurch Verstärkung und Entsatz bekommen. Technik und Taktik der feindlichen Luftlandekräfte sind hoch entwickelt, Ausbildung auch für den Kampf auf hoher Stufe, zähe, geländegewandte Kämpfer!
Es ist damit zu rechnen, daß neben den zum eigentlichen Kampf abgesetzten Fallschirmspringern besondere Trupps mit Sonderaufträgen (Erkundung und Meldung über Gefechtsstände, Mun.-Lager, rückwärtige Verbindungen usw., Zerstörungen, Unterbrechungen, Überfälle) abgesetzt werden oder sich aus den luftgelandeten Kräften abzweigen. Diese Trupps verhalten sich völlig ruhig, um nicht aufzufallen oder in den Kampf verwickelt zu werden. Mit genauer Ortskenntnis und Hilfsmitteln jeder Art ist zu rechnen.

b) Eigentliche Anlandung von Seeseite her begann 4-5 Stunden nach den Luftlandungen! Feind hatte sein bisher von uns für wahrscheinlich gehaltenes Anlandeverfahren: bei anlaufender Flut - auf Grund der von ihm erkannten starken Vorstrandsperren geändert und auf Niedrigwasser umgestellt. Dies wurde schon einige Wochen vor erfolgter Anlandung an Übungen in England erkannt. Feind konnte auf diese Weise Lücken in den Vorstrandsperren erkennen, sie mit Panzern umfahren, im übrigen die Vorstrandsperren durch eigene Spezialtrupps zum Teil (Gassen!) öffnen und überwinden.
Wo Vorstrandsperren nicht erkannt wurden und unter Wasser standen, entstanden schwere Feindverluste an Landungsschiffen und Menschen. Eine Verzögerung im Tempo der Anlandung und dadurch Erhöhung der Feindverluste im eigenen Feuer ist aber auch bei den trockenliegenden Vorstrandsperren festzustellen.
Zeit der Anlandung von See her: Ab 06.00 Uhr morgens, also bei voller Sicht. Der Anlandung ging 1/2 stündiges Luft- und See-Bombardement von außergewöhnlicher Stärke und mit allen Kalibern voraus. Dies bewirkte, daß feldmäßige Anlagen mehr oder minder eingedeckt und "umgepflügt" wurden, so daß in der Hauptsache nur die festungsmäßigen Anlagen erhalten blieben. Durch die Zwischenräume sickerte Feind durch, ohne zunächst sich mit der angriffsweisen Bekämpfung der festungsmäßigen Anlagen und großen Stützpunkte zu befassen.
Diese Stützpunkte hielten vielfach noch über eine Woche lang und zersplitterten dadurch feindliche Kräfte. Sie haben durch ihr Aushalten bis zum Letzten wesentlich dazu beigetragen, für die Maßnahmen der eigenen Führung Zeit zu gewinnen und einen Feinddurchbruch aus dem Landekopf heraus zu verhindern.

c) Die feindliche Luftwaffe:
Sie beherrscht zahlenmäßig, in ihrer Reichweite fast unbegrenzt, nicht allein das Hauptkampffeld, sondern auch die Anmarsch- und Nachschubstraßen auf eine Tiefe von rund 150 bis 200 km. Darüber hinaus führt der Feind mit operativen Kampfverbänden den Kampf bis in das Heimatkriegsgebiet zur Zerstörung der großen rückwärtigen Bahnverbindungen, insbesondere Eisenbahnknotenpunkte, Verschiebebahnhöfe, Lok.-Werkstätten, Brücken, wichtiger mit der Kriegsführung zusammenhängender Werke usw.
Trotz des im Westen hochentwickelten Eisenbahnnetzes und der zahllosen guten Straßen und Nebenwege ist es dem Feind gelungen, durch den Massen- und Daueransatz seiner Luftwaffe den eigenen Nachschub und die Versorgung so empfindlich zu stören und dabei so hohe Ausfälle an rollendem Material und Kfz. zu bewirken, daß Nachschub und Versorgung zu einem ernsten Problem wurden.
Je näher dem Kampfraum, desto stärker treten zur "Straßenjagd" eingesetzte Jäger und Schlachtflieger in Erscheinung. Sie unterbinden bei gutem Wetter am Tage und unter Einsatz von Leuchtbomben bei Nacht durch ihre Angriffe alle größeren Bewegungen. Vorerst lag in der Tiefe des Kampfraumes der Schwerpunkt der fdl. Luftangriffe auf den Hauptstraßen. Er erfaßt jetzt aber in einer mindestens 20 km tiefen Zone hinter der HKL jede Bewegung, sowohl auf Nebenwegen als auch im Gelände. Wo Bereitstellungen vom Feind erkannt werden, folgt binnen kurzem der Bombenangriff von Kampfverbänden. Für das Einhalten großer Abstände der Kfz. innerhalb von mot. Kolonnen muß grundsätzlich gesorgt werden!
Gefechtsstände werden durch ihre Funkstellen verraten. Die Funkstellen müssen daher räumlich so weit abgesetzt vom Gefechtsstand sein, daß Bombenteppiche oder Reihenwürfe den Gefechtsstand nicht mit zudecken. Wo keine festungsmäßigen Gefechtsstände vorhanden sind, müssen die Gefechtsstände häufig gewechselt werden. Vorausschauende Erkundung daher nötig, ebenso Bekanntgabe an die zuständigen Kdo.-Behörden, damit der betreffende Gefechtsstand gefunden wird.
In 2½ Tagen wurden bei einer Breite des feindl. Landekopfes von rund 100 km 29.000 Einflüge gezählt; hiervon entfallen pro Tag rd. 2.300 auf Flugzeuge, die im Tiefangriff jede Bewegung auf der Erde mit Bomben und Bordwaffen - selbst den einzelnen Soldaten - bekämpfen.

Für die deutschen Militärs war die Situation also erkennbar, aber als Reaktion kommt man nicht zur Folgerung, dass es sinnlos ist, den Krieg fortzusetzen, sondern die obersten Militärs befassen sich mit Angelegenheiten eine Etage tiefer, z.B. wo Funkstellen zu plazieren wären ...