Generalfeldmarschall Paulus über die Schlacht von Stalingrad

Nach dem Krieg verfasste Paulus Aufzeichnungen über sein Leben und die Ereignisse des Krieges, zu Stalingrad schrieb er (auch zur Rechtfertigung seines eigenen Verhaltens) u.a.:

Der gesamte Komplex Stalingrad besteht aus drei Entwicklungs-Phasen.

1. Der Vorstoß zur Wolga. Im Gesamtrahmen des Krieges bedeutete die Sommeroffensive 1942 den Versuch, in nochmaligem Angriff das zu erreichen, was im Spätherbst 1941 gescheitert war, nämlich den Feldzug im Osten zum siegreichen Abschluß zu bringen - eine Konsequenz aus dem überfallartigen Angriff auf Rußland überhaupt - in der Erwartung, damit die Entscheidung des Krieges herbeizuführen.
Im Bewußtsein der militärischen Kommandostellen stand die rein militärische Aufgabe im Vordergrund. Diese Grundeinstellung der letzten Chance für Deutschland, den Krieg zu gewinnen, beherrschte das gesamte Denken auch während der beiden nächsten Phasen.

2. Mit Beginn der russischen November-Offensive und der Einschließung der 6. Armee sowie von Teilen der 4. Pz.Armee, zusammen rund 220000 Mann, setzte sich immer mehr - entgegen allen falschen Versprechungen und Illusionen des OKW - die Erkenntnis durch, daß an die Stelle "siegreicher Abschluß des Feldzuges gegen Rußland" die Frage trat:
Wie kann im Osten die vollständige Niederlage und damit der Verlust des ganzen Krieges vermieden werden?
Von diesen Gedanken waren Führung und Truppe der 6. Armee durchdrungen, während die vorgesetzten Dienststellen (HGr., Chef Gen.Stb. d. Heeres und OKW) noch an Siegeschancen glaubten oder dies wenigstens vorgaben.
Über die aus der Lage zu folgernden Führungsmaßnahmen und Methoden gingen daher die Ansichten scharf auseinander. Da die vorgesetzten Dienststellen, von den vorgenannten Erwägungen ausgehend und unter Zusage kommender Unterstützung, den in der ersten Phase der Einkesselung noch möglichen Ausbruch abgelehnt hatten, blieb nur das Standhalten, um zu verhindern, daß durch eigenmächtiges Handeln eine Desorganisation und damit Auflösung des gesamten Südteils der Ostfront eintrat. Durch letztere wäre aber mit der Vernichtung der ursprünglichen Siegeserwartungen zugleich auch in kurzer Zeitspanne jede Möglichkeit, eine entscheidende Niederlage und damit den Zusammenbruch der Ostfront zu vermeiden, zerschlagen worden.

3. In der dritten Phase, nach Scheitern der Entsatzversuche und Ausbleiben der versprochenen Hilfe, handelte es sich lediglich um Zeitgewinn, um den Neuaufbau des Südteils der Ostfront und die Rettung der im Kaukasus stehenden starken deutschen Kräfte zu ermöglichen.
Gelang dies nicht, so war der Gesamtkrieg allein schon durch die zu erwartenden Ausmaße bei einer Niederlage an der Ostfront verloren.


Die vorgesetzten Dienststellen vertraten daher nun selbst das Argument, daß es gelte, durch "Ausharren bis zum Äußersten" das Schlimmste für die Gesamtfront zu verhüten. Damit spitzte sich die Frage des Widerstandes der 6. Armee bei Stalingrad auf folgendes Problem zu: So wie die Lage sich mir darstellte und noch mehr, wie sie mir dargestellt wurde, konnte die totale Niederlage nur verhindert werden durch Aushalten der 6. Armee bei Stalingrad bis zum Äußersten. In dieser Richtung bewegten sich auch die Funksprüche der letzten Tage "Es kommt auf jede Stunde an". Vom rechten Nachbarn kamen wiederholt Anfragen "Wie lange hält die 6. Armee noch?".

Meine Führung stand daher von der Bildung des Kessels an, vor allem aber seit dem Scheitern des Entsatzversuches durch die 4. Pz.Armee (Ende Dezember) unter einem schwerwiegenden Widerstreit.
Auf der einen Seite standen die laufenden strikten Haltebefehle, die immer wiederholten Hilfeversprechungen und die mir immer wieder eingeschärften Rücksichten auf die Gesamtlage. Auf der anderen Seite waren es die menschlichen Beweggründe, die sich aus der zunehmenden unbeschreiblichen Notlage meiner Soldaten ergaben und die Frage aufwarfen, ob ich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt den Kampf einstellen mußte. Bei vollem Mitleid für die mir anvertrauten Truppen habe ich geglaubt, den Führungsgesichtspunkten den Vorrang geben zu müssen. Auch mußte die 6. Armee eigene unerhörte Leiden und namenlose Opfer auf sich nehmen, um - wie sie die feste Überzeugung hatte - viel zahlreicheren Kameraden der benachbarten Verbände die Rettung zu ermöglichen.

So wie die Dinge um die Wende des Jahres 1942/43 lagen, glaubte ich, durch das lange Aushalten bei Stalingrad gerade den Interessen des deutschen Volkes zu dienen, da mir ein Zusammenbruch an der Ostfront jeden politischen Ausweg zu versperren schien.
Jedes selbständige Heraustreten aus dem allgemeinen Rahmen durch mich oder bewußtes Handeln gegen die gegebenen Befehle bedeutete die Übernahme der Verantwortung im Anfangsstadium - bei einem Ausbruch - für das Schicksal der Nachbarn, im weiteren Verlauf - bei vorzeitigem Aufgeben des Widerstandes - für das Schicksal des Südabschnittes und damit für die ganze Ostfront selbst, bedeutete also - wenigstens äußerlich - vor dem ganzen deutschen Volk den durch mich herbeigeführten Verlust des Krieges. Man hätte dann auch nicht gezögert, mich für die gesamten operativen Folgeerscheinungen an der Ostfront zur Verantwortung zu ziehen.
Und welche überzeugenden und stichhaltigen Argumente hätten - nun einmal ohne Kenntnis des tatsächlichen Ausgangs - von dem Oberbefehlshaber der 6. Armee für sein befehlswidriges Verhalten vor dem Feinde vorgebracht werden können? Birgt im Grunde eine drohende oder subjektiv erkannte Ausweglosigkeit der Lage für den Truppenführer ein Recht der Befehlsverweigerung in sich? Im Falle Stalingrad war die Frage der völligen Ausweglosigkeit durchaus nicht absolut zu bejahen, geschweige denn als subjektiv eindeutig erkannt anzusehen, wenn man vom letzten Stadium absieht. Von welchem Unterführer hätte ich später in ähnlicher - nach dessen Meinung - schwieriger Lage Gehorsam fordern können oder dürfen?
Entbindet die Aussicht auf den eigenen Tod oder den wahrscheinlichen Untergang oder die Gefangenschaft der eigenen Truppe den Verantwortlichen vom soldatischen Gehorsam?

Für diese Frage möge heute ein jeder für sich selbst und vor seinem eigenen Gewissen die Antwort finden.

Damals hätten Wehrmacht und Volk eine solche Handlungsweise meinerseits nicht verstanden. Sie wäre in ihrer Auswirkung ein ausgesprochen revolutionärer, politischer Akt gegen Hitler gewesen. Es steht auch dahin, ob ich durch ein befehlswidriges Verlassen der Position Stalingrad nicht gerade Hitler die Argumente in die Hand gespielt hätte, die Feigheit und den Ungehorsam der Generale an den Pranger zu stellen, ihr (ihnen) die ganze Schuld an der sich immer drohender abzeichnenden militärischen Niederlage aufzubürden.
Einer neuen Legende, nämlich der des Dolchstoßes von Stalingrad, hätte ich den Boden bereitet zum Nachteil des Geschichtsbildes unseres Volkes und der ihm so nottuenden Erkenntnisse aus diesem Kriege.
Die umstürzende Absicht, die Niederlage bewußt herbeizuführen, um damit Hitler und das nationalsozialistische System als Hindernis für die Beendigung des Krieges zu Fall zu bringen, ist weder von mir erwogen worden, noch kam sie mir aus meinem ganzen Befehlsbereich in irgendeiner Form zur Kenntnis.

Solche Gedanken lagen damals außerhalb des Bereiches meiner Überlegungen. Sie lagen aber auch außerhalb meiner persönlichen Eigenart. Ich war Soldat und glaubte damals, gerade durch Gehorsam meinem Volk zu dienen.
Was die Verantwortlichkeit der mir unterstellten Führer anbetrifft, so befanden sie sich, taktisch gesehen, in der Ausführung meiner Befehle in der gleichen Zwangslage wie ich im Rahmen der großen operativen Lage und der mir erteilten Befehle.
Vor den Truppen und den Truppenführern der 6. Armee sowie vor dem deutschen Volke trage ich die Verantwortung, daß ich die von der Obersten Führung gegebenen Durchhaltebefehle bis zum Zusammenbruch durchgeführt habe. (..)